Freitag, 16. Januar 2015
Ulla Hahn: „Spiel der Zeit“
Hilla Palm, aufgewachsen im Rheinland, ist auf ihrem Weg in einen neuen Lebensabschnitt. Es ist ein neuer Anfang, weg aus dem Dorf ihrer Kindheit, weg von ihren belastenden Erlebnissen ihrer Jugendzeit, hin in ein Zimmer in einem katholischen Mädchenwohnheim, zu neuen Freundschaften und neuen Freiheiten in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre.

Hilla hat es geschafft auszubrechen, aus der Enge des strengen konservativen Elternhaues. Sie hat gegen alle Widerstände endlich ihr Abitur und taucht ein in das freie Studentenleben. Sie beginnt ein Studium der Germanistik und Philosophie an der Uni Köln und das zu genau der Zeit, in der das Aufbegehren der Studierenden gegen die alten, festgefahrenen Gesellschaftlichen Strukturen aufwallt. Hilla ist angekommen, bei dem, was seit ihrer Kindheit ihr Denken und Fühlen beherrschte: beim “Wort“, bei Wörtern, ihrer Bedeutung, ihrer Schönheit, ihren Inhalten und ihrer Macht.

Nach „das verborgene Wort“ (verfilmt unter dem Titel „Der Satansbraten“) und „Aufbruch“ ist „Spiel der Zeit“ der dritte Teil des autobiografisch geprägten Werkes von Ulla Hahn. Auch dieser Roman ist von der Faszination der Sprache, der Wörter geprägt. Ein Buch, das durch seine Wortgewalt Bilder im Kopf entstehen lässt. Bilder von Hilla, allein in Köln ; Bilder eines sonnigen Nachmittags, eines Spaziergangs, Hilla und ihre große Liebe Hugo gehen durch das kleine Dorf am Rhein, auf den Spuren ihrer Erinnerungen an den Großvater; Bilder einer verrauchten Wohnung in Köln, nächtelangen hitzigen Diskussionen über Politik, Religion und Philosophie.

In das Epos der Autorin taucht man tief ein, lässt sich geradezu in einen Bann ziehen, der einen über Stunden hinweggleiten lässt. Da fühlen sich sechshundert Seiten wie ein kurzer Augenblick an.

Bilder erzeugen durch ihren unglaublich fesselnden Erzählstil und ihre poetische Sprache, das kann Ulla Hahn wie keine andere!

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Dienstag, 2. Dezember 2014
Verena Güntner: „Es bringen“
In ihrem Debütroman schlüpft die Autorin Verena Güntner in die Rolle des sechzehnjährigen Luis. Luis ist ein cooler Typ, der zweite Chef in seiner Gang. Der erste ist Milan, sein bester Freund. Beide verdienen sich Ihr Geld, indem sie innerhalb der Clique Wetten abschließen; „Fickwetten“ genannt. Es geht darum, dass Luis so viele Mädchen wie möglich „flachlegt“. Er selbst gibt sich ausgebufft und cool, er ist ein „Bringer“, was ihm die Mädchen, die er regelmäßig beglückt, bestätigen.

Doch nach seinen eigenen Aussagen, leidet er manchmal an Coolheitsausfällen und dann träumt er von seiner Traumfrau, die so sein muss wie seine Ma‘, oder er streichelt das Pony des Nachbarn, was er natürlich niemandem erzählt, sonst kann das „ja auch schwul und weicheimäßig rüberkommen“. (Zitat)

Er lebt nach Regeln und Ritualen, trainiert sich selbst, um Macht und Kontrolle über sich und andere zu erlangen. Er ist Trainer und Mannschaft in einer Person. Und so scheint er alles im Griff zu haben. Wenn es jedoch „im Oberstübchen einmal brenzlig wird“, dann gibt Luis sich selbst einen Hinterkopfklaps. Der Junge wirkt wie eine tickende Zeitbombe. Er kämpft sich durch seine Gefühlswelt und versucht sich und anderen, vor allem seinem besten Freund Milan, seine Stärke zu beweisen. Als Milan etwas für Luis Unvorstellbares tut, gerät die Sache bald außer Kontrolle und es kommt zum Äußersten. Wut und Unbehagen entladen sich mit einer nie zuvor erlebten Brutalität.

Die Autorin lässt den Leser die Diskrepanz zwischen dem Sich-unter-Kontrolle-haben des Pubertierenden und der Eigenverantwortung des Erwachsenen deutlich spüren. Sie bedient sich einer Sprache, wie man sie selten in Büchern liest, des Jargons eines sechzehnjährigen Jungen; der Sprache eines Jugendlichen, der mit seinem ganzen Dasein überfordert scheint. Der Leser wird Zeuge von Luis’ Innenleben und ist so dicht am Protagonisten, dass es schon manchmal unangenehm wird. Die Vulgarität und Rohheit der Sprache lässt einen manchmal schaudern. Die Schilderungen Luis reichen von herzzerreißend bis ekelerregend und abstoßend.

Diesen Roman liest man nicht nur, sondern man fühlt ihn, man lebt mit. Danach muss man sich erstmal erholen. Was Verena Güntner hier gelungen ist, ist wirklich einzigartig. Ein außergewöhnlicher Roman über die Schwere des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung.

Eines der wenigen Bücher dieses Jahres, das mich stark emotional berührt hat.

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Dienstag, 28. Oktober 2014
Jonathan Tropper: „Der Sound meines Lebens“
Das etwas heruntergekommene Motel, mit dem unpassenden Namen „Versailles“, ist zum Sammelplatz am Leben gescheiterter Existenzen geworden. Sie alle sind Loser, meist männlich und führen ein trauriges Leben. Von Ihren Frauen geschieden, ihren Familien verlassen, bedauern sie sich gegenseitig und lecken ihre Wunden. Beklagen sich darüber, dass ihre Ex-Frauen mit Hilfe ihrer finanziellen Unterstützung in ihren schicken Vorstadthäusern leben und die gemeinsamen Kinder in schicken Autos zur Schule bringen. Sie alle halten sich für „coole Jungs“ und benehmen sich entsprechend, mit frivolen Sprüchen und Machogehabe.

So auch Drew Silver, genannt Silver, Ende 40, ehemaliger Rockstar, dessen Leben aus den Fugen und sein Körper aus der Form geraten ist. Sein Geld verdient er mit der wöchentlichen Spende seines Samens bei einer medizinischen Studie. Silver ist zunehmend desillusioniert und depressiv und hat keinerlei Erwartungen mehr ans Leben. Bis zu dem Tag, an dem seine achtzehnjährige Tochter, die ihn bisher gemieden hat, ihm mitteilt, dass sie schwanger ist. Kurz darauf bekommt Silver die Diagnose „Aortenaneurysma“. Gegen jede Empfehlung jedoch lehnt er eine Operation ab. Nicht, dass er sterben wollte, „er weiß bloß nicht, ob er Leben will“ (Zitat Seite 101). Und genau diese Entscheidung, die niemand so recht nachvollziehen kann, bringt allerlei Veränderungen bei den Menschen in seinem Umfeld mit sich und bei ihm selbst. Allem voran seine neue Offenheit, Dinge, die er denkt, plötzlich laut auszusprechen.

Der in New York geborene Autor Jonathan Tropper beschäftigt sich in diesem Roman nicht zum ersten Mal mit dem Thema Sterben. Doch trotz der Schwere und Tiefe der Handlung bleibt der Autor zuversichtlich. Außerdem lässt er tief in die Seele des Mannes im Allgemeinen blicken und zeigt, dass in den harten Kerlen, die seine Figuren alle sein wollen, weiche Kerne stecken. Allesamt sind sie liebenswert, insbesondere der Protagonist.

Troppers Sprache ist jung und spritzig. Die Sätze einfach, aber schön. Der Text mutet manchmal etwas umgangssprachlich an, was auch der Übersetzung geschuldet sein könnte. Der Roman ist ab und an etwas rührselig, garantiert aber gute Unterhaltung. Der Autor verzichtet letztendlich auf ein zu kitschiges Happy End.

Ohne den Witz und den zynisch, selbstkritischen Blick auf die Spezies Mann, könnte man Jonathan Tropper als männliche Antwort auf Cecilia Ahern verstehen!

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Donnerstag, 28. August 2014
Andreas von Flotow „Tage zwischen gestern und heute“
Andreas von Flotow erzählt diesen Roman aus Sicht eines Mannes, der sich an zwanzig Jahre zurückliegende Ereignisse zu erinnern versucht; an eine Zeit, da war er 11 Jahre alt. Bei einem Anschlag kommt sein Vater durch dreizehn Schüsse ums Leben. Seine Mutter wird so schwer verletzt, dass sie ins Koma fällt. Die unterkühlte Großmutter, die er, für ihn aus unerfindlichen Gründen, „Tante Eve“ nennen muss, nimmt ihn bei sich auf. Von allen verlassen und seit jeher schon nicht gerade mit Aufmerksamkeit überschüttet, die Mutter eine berühmte Sängerin und ständig unterwegs, der Vater zurückgezogen in die Welt der Literatur, entwickelt der Junge eine Art Zwang, Dinge zu zählen und aufzuzählen, mal laut mal leise vor sich hin. So zum Beispiel die Liste der Bücher aus dem Nachlass seines Vaters. Was ihm von seiner Mutter bleibt, sind nur mehr die täglichen Besuche in der Klinik.

Schon im Vorwort und im ersten Satz des Romans „An dem Tag als meine Mutter starb, wachte ich früh auf“ (Zitat) nimmt der Autor die Pointe des Buches vorweg. Von da an spricht der Ich-Erzähler über seine Kindheit. Die Erinnerungen allerdings bleiben mal vage, mal scheinen sie geradewegs unkontrolliert aus ihm herauszusprudeln. Die Arbeit des Autors wirkt nicht aufgeschrieben, sondern wie ein stetiges Grübeln und Nachdenken, ein innerer Monolog. Der Erzähler versucht sich immer wieder zu erinnern, diese Erinnerungen zeitlich zu ordnen, was ihm, wie er auch selbst sagt, nur wenig gelingt. So entstehen Bruchstücke, die letztendlich doch ein Gesamtbild erkennen lassen. Die Geschichte des eigenartigen einsamen Jungen wird von fortwährendem Philosophieren über das Erinnern selbst etwas in den Hintergrund gerückt.

Trotz des tragischen Schicksals des Protagonisten bleibt der Leser außen vor, er wird lediglich Zeuge seiner Gedanken. Diese sind zwar einfühlsam widergegeben, haben mich persönlich aber emotional kaum berührt. Sprache und Stil sind außergewöhnlich und interessant; die dauernde Wiederholung des Wortes „Erinnerung“ in all seinen grammatikalischen Formen zermürbend.

Der Roman ist leider weniger poetisch als der Titel vermuten lässt!

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Montag, 28. April 2014
Heike Kühn „Schlangentöchter“
In den sechziger Jahren wird in Frankfurt ein Mädchen geboren: Tonie. In einer Zeit in der in Frankfurt die ersten großen Prozesse gegen NS Verbrecher beginnen; in eine Generation die immer noch unter den Folgen des Krieges leidet und in eine Familie, in der jedes Mitglied schwer an seiner eigenen Vergangenheit trägt. „Mehr oder minder sind alle aus der Zeit gefallen“ (Zitat Seite 26) in dieser Familie. Hartmut, der Vater, der in Kriegsgefangenschaft entnazifiziert werden musste, die Mutter Milla, einst aus ihrer Heimat Tschechien vertrieben, Tante Christine, deren Baby verhungert ist, Onkel Rudi der Judenhasser und Oma Elsbeth die das lange Erbe der Schlangentöchter anführt. Denn jede Tochter der Familie Alles wird mit einem Schlangenschwanz geboren. So auch Tonie, die jüngste einer langen Generation von Schlangentöchtern. Entgegen der uralten Bestimmung, dass nach dem ersten Liebesakt der Schlangenschwanz abfällt, geschieht das bei Tonie durch eine Unachtsamkeit ihrer Tante bereits einige Tage nach ihrer Geburt. Was sie dagegen, wie die anderen vor ihr, nicht verliert, ist die Gabe mit Geistern, Toten und dem Überrest des Schwanzes zu kommunizieren.

Aber nicht nur dieses mystische Geheimnis wurde in der Familie Alles weitergegeben, sondern auch die Brutalität und die Unterdrückung gegenüber den Frauen. Die gefährliche Herrschsüchtigkeit Hartmuts bekommen in erster Linie Milla und ihre fast erwachsene Tochter aus erster Ehe zu spüren. Denn liebevoll ist Hartmut nur zu seinen Schlangen im Exotarium des Frankfurter Zoos, in dem er als Tierpfleger beschäftigt ist. Als später auch Tonie vom wahren Wesen ihres Vaters nicht mehr verschont bleibt, sucht sie nach Möglichkeiten das Familienschweigen für immer zu brechen.

Heike Kühn erzählt eine spannende Familienchronik, mal mystisch, mal spirituell und mit einer großen Portion Phantasie. In schönen poetischen Sätzen und bildreicher Sprache lässt sie Realismus und Magie nebeneinander existieren. Der Debutroman der Frankfurter Journalistin besticht durch Zeitgeschichte, mit Fabelhaftem und menschlichem Schicksal. Das schöne darin ist, dass er sich nicht nur einem einzigen Genre zuordnen lässt. Er trifft den Leser im emotionalen Kern und lässt ihn so die vielen Jahre der Familie Alles miterleben.

Eine fesselnde Erzählung von Anfang bis Ende, die auch Nicht-Schlangentöchtern geradewegs unter die Haut geht.

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Freitag, 17. Januar 2014
Zadie Smith „London NW“
London North West ist ein Stadtteil mit Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft und Ausgangspunkt für eine Handvoll Menschen in Zadie Smith’s neuem Roman. In Episoden schildert sie deren Biographie.

Alle bringen die gleiche Voraussetzung mit, sich im Laufe ihres Lebens weiter zu entwickeln und so den Sozialwohnungen und dem Milieu des beengten Stadtteils zu entfliehen. Das gelingt nicht allen. Während Leah noch mit sich hadert, unzufrieden und Pot rauchend durch die Welt geht, scheint es Natalie geschafft zu haben. Sie lebt mit ihrem erfolgreichen Banker im eigenen Haus mit „perfekten Kindern“ in einem „perfekten Leben“. So scheint es. Jedoch tut Natalie alles dafür, ihre jamaikanische Herkunft und ihr Elternhaus zu verleugnen; denn als Leah sie im Alter von fünf Jahren kennengelernt hatte, hieß sie noch Keisha. Felix versucht nach wie vor trotz geltender Klassenunterschiede und Rassismus, die ihm täglich begegnen, sein eigenes Ding zu machen. Aus diesen scheinbar unabhängigen Lebensbildern, zu denen später auch Nathan stößt, ergibt sich bald ein Ganzes. Denn sie haben sich gekannt, früher, als Kinder und ihre Lebenswege werden sich nochmals kreuzen.

Keine Frage, dass Zadie Smith hier ein intelligentes, verstörendes Sozialdrama geschrieben hat. Die ganze Unzufriedenheit der Protagonisten, das fortwährende Nicht-zu-sich-selbst-kommen und die fehlende Authentizität sind allerdings kaum zu ertragen. Die Sprache der Autorin ist ungewohnt verbittert, aber auch modern und jung. Kurze unfertige Sätze und abgebrochene unvollständige Gedankenfetzen sind nicht immer nachzuvollziehen und machen das Lesen und Verstehen des Romans nicht einfach. Wie genau die einzelnen Figuren „ticken“ wird mehr zwischen den Zeilen klar und bedarf wenig äußerlicher Beschreibungen. Die Protagonisten und deren Lebensweise sind mir trotz der Intensität des Textes fremd geblieben. Einzig die bedrückende Atmosphäre hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„London NW“ ist weniger Roman, vielmehr eine Abrechnung mit der Gesellschaft im Allgemeinen, der Politik, dem Leben und den Menschen darin. Für mich persönlich definitiv das falsche Buch zur falschen Zeit. Selten war ich nach einer Lektüre derart gefrustet und deprimiert, wie nach diesem Buch.

Empfehlen kann ich allerdings Zadie Smith’s Roman „Von der Schönheit“!

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Montag, 30. Dezember 2013
Hakan Nesser „Himmel über London“
Leonard Vermin plant seinen 70sten Geburtstag in London zu feiern. Also reist er mit seiner amerikanischen Lebensgefährtin Maud schon Tage vorher an, um alles vorzubereiten. Nur wenige Einladungen sind verschickt; unter anderem an die Kinder von Maud, die auf ein großes Erbe hoffen. Denn Leonard ist vermögend und sterbenskrank, ohne dass ihn für beides irgendeine Schuld trifft, wie er selbst sagt. Auch in einem ganz anderen Teil der Welt erhält ein junger Mann eine Aufforderung vom ihm unbekannten „Gönner“, an dieser Feierlichkeit teilzunehmen.

Das könnte jetzt eine ganz einfach erzählte Geschichte werden, kennt man Hakan Nesser nicht. Denn bei ihm ist nichts einfach nur so erzählt. Er sitzt jedem seiner Figuren dicht im Nacken und erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen. Ab und an versorgt er den Leser mit kleinsten Andeutungen, gibt ihm so einen Wissensvorsprung gegenüber seinen Protagonisten. So gelingt es dem Autor, die Spannung bis zum Ende zu halten. Stein für Stein setzt sich hier ein Puzzle zusammen.

Jede der Figuren scheint in eigene Widrigkeiten verstrickt zu sein. Leonard erinnert sich zum Beispiel dank seiner Aufzeichnungen in einem gelben Notizbuch an seinen früheren Besuch in London in den späten 60er Jahren. Da hat er Carla kennengelernt, seine große Liebe; eine tschechische Spionin, die ihn in seine Machenschaften hineingezogen hat. Irina, die Stieftochter versucht einen Unfall in der Vergangenheit zu verdrängen und Gregorius, der Bruder, hat im Geiste schon Millionen geerbt.

Bis es zum großen Fest kommt, geht also noch einiges vor im kühlen London. Nicht nur, dass es zu einem heftigen Unwetter kommt, ein Mörder zur selben Zeit in der Stadt sein Unwesen treibt, ein Notar wichtige Unterlagen vorbereitet und es Leonard zusehends schlechter geht. Ein weiterer Protagonist taucht in der Geschichte auf: der Schwede Lars Gustav Selen, der einen größeren Einfluss auf die Geschehnisse nimmt, als man es für möglich hält.

In diesem Roman gelingt Hakan Nesser eine Vermischung von Wahrheit und Lüge. Zwischen Fiktion und Wirklichkeit weiß der Leser kaum zu unterscheiden. Mit einem genialen literarischen Schachzug, der für die stilistische Gerissenheit und die Intelligenz des Autors spricht, bringt der den unerschütterlichen Glauben des Lesers an eine einzige Wirklichkeit ins Wanken. Dass ICH mich beim Lesen leicht an der Nase herumgeführt gefühlt habe, ist sicherlich meiner naiven Leichtgläubigkeit geschuldet. „…das musste im Namen der Ehrlichkeit zugegeben werden.“ (Buchzitat Seite 528)

Bei allem Lob hat Hakan Nesser aber doch schon weit Besseres geliefert! Trotzdem lesenswert!

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Mittwoch, 13. November 2013
Claire Beyer „Refugium“
Wo ist Robert? Das ist die Frage der Fragen in diesem Roman. Gerade noch als Testfahrer in Schweden, ist Robert plötzlich verschwunden. Mit ihm das Fahrzeug. Claudia und er führen seit langem schon eine Wochenendehe. Er verbringt mehrere Wochen in Nordschweden im Testzentrum für Automobilwirtschaft, sie wohnt in Deutschland. Seit dreißig Jahren sind sie verheiratet, haben zwei erwachsene Söhne und sich mit der Zeit etwas auseinander gelebt. Trotz Flugangst fliegt Claudia in den kleinen Ort ins winterliche Skandinavien, um den Arbeitgeber und die Polizei bei den Ermittlungen zu unterstützen. Handelt es sich um Industriespionage oder hat Robert sie einfach still und heimlich verlassen?

Sie kommt bei Birgitta unter, einer Freundin des Firmenchefs. Die Ermittlungen verlaufen sehr zögerlich und Claudia wird erst hier bewusst, wie wenig sie über das Leben ihres eigenen Mannes in seiner zweiten Heimat weiß. Nie hat sie ihn besucht oder je seine Wohnung betreten. Und anstatt die Suche zu forcieren, verhält sie sich merkwürdig passiv und lässt sich treiben. Während des Wartens auf Neuigkeiten freundet sich Claudia mit Birgitta an. Robert tritt gedanklich in den Hintergrund.

Unter anderem diese Tatsache ist für mich als Leserin sehr unverständlich; trotz Entfremdung zum Ehemann. Claudia unternimmt nichts, fragt nichts, sagt nichts. Zudem gibt die Autorin allen Figuren eine ausgeklügelte Vita; alle haben ein schweres Schicksal hinter sich, was sie mehr und mehr unglaubwürdig erscheinen lässt. Das Buch kommt leider erst in den letzten zwanzig Seiten so etwas in Fahrt; bis dahin ist die Geschichte schmucklos und unbedeutend. Landschaftsbeschreibungen wirken einem Reiseführer entnommen und bleiben klischeehaft. Der Leser wird Zeuge von uninteressanten Gesprächen zwischen den beiden Frauen, die mit Zitaten und Weisheiten geradezu jonglieren. Vielleicht liegt es an Sätzen wie:

„Mankell und Lindgren sind wie Yin und Yang“

oder

„Der Sonnenwind ließ sich fortwährend neue Szenerien einfallen, jagte als Choreograf sein Ballett in alle Himmelsrichtungen, peitschte es über das Schwarz der Nacht, als wolle er zeigen, wer der Meister ist; die Tänzer gaben ihr Bestes und fanden in bizarren Bildern unermüdlich neu zusammen. Trolle und Kobolde, Elfen, Mensch und Tier konnten, angesichts eines solchen Ausmaßes unbändiger Wucht über sich, erahnen, erfühlen oder in Demut verstehen, wie winzig sie waren“

die mich zu meinem Urteil veranlassen. Sie wirken zu sehr konstruiert, bemüht und angestrengt. Trivial und allzu pathetisch!

Aber eines muss ich Claire Beyer zugutehalten: Die Frage nach Robert ist letztendlich gut gelöst; der wirklich überzeugendste und spannendste Teil des Romans.

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Mittwoch, 30. Oktober 2013
Edward St. Aubyn „Am Abgrund“
So unterschiedlich die vielen Figuren in diesem Roman auch sind, eines haben sie alle gemeinsam: sie alle sind auf der Suche. Auf der Suche nach dem spirituellen Führer, nach Erleuchtung, Gelassenheit, nach etwas Höherem oder eben einfach nach sich selbst. Und so kommt es, dass sich all diese Menschen Ende der 90ger Jahre im kalifornischen Esalen-Institut treffen, um Selbsterfahrungskurse oder Workshops zu besuchen. Unter ihnen auch die gutsituierte Brooks, die eine große Villa besitzt und mit ihrem Bekannten Kenneth anreist; im Schlepptau Adam, den Anti-Guru-Guru wie er sich selbst nennt, der seinem Geliebten Yves treu ergeben ist; Chrystal, die Unsichere; der Banker Peter, der eigentlich nur auf der Suche nach der deutschen Sabine ist, mit der er drei wundervolle Tage verbracht hat oder aber die Aromatherapeutin Haley, die sich von ihrem Freund Jason finanziell ausnehmen lässt. Auch Teil nehmen Stan und Karen. Ein schon etwas älteres Ehepaar, das hofft, beim sakralen Tanz ihrem müde gewordenen Liebesleben wieder auf die Sprünge zu helfen.

In diesen Wochen üben sich alle in Achtsamkeit und Gelassenheit, besuchen Kurse wie „Loslassen und Weitergehen“. Es wird sich geöffnet, nach dem inneren Kind geforscht und liebende Güte verströmt. Das alles und wie am Ende die Geschichte in einem Workshop für tantrische Sexualität endet, das beschreibt Edward St. Aubyn in diesem Roman.

Mit bösartigem Zynismus nimmt der englische Autor eine ganze Generation von Esoterikern auf die Schippe und das mit so viel Witz und schwarzem Humor, dass es eine Freude ist. Sprachlich überaus intelligent, muss man sich an den überzogenen Slang der Ironie allerdings etwas gewöhnen. Der Autor schwafelt gerne und lässt sich ungefiltert aus über Dinge und Menschen, von denen er mehr zu verstehen scheint, als er zugeben will. Aber dieses Schwafeln ist ungeheuer unterhaltsam. Die Unmenge an Protagonisten wirkt am Anfang verwirrend, es macht jedoch Spaß jeden Einzelnen von ihnen näher kennenzulernen, seine menschlichen Schwächen und Wünsche zu begreifen.

Wer sich ein wenig in der Psychologie des Menschen auskennt, wird mit diesem Buch so viel Spaß haben, dass er für diese Stunden seinen Daseinssinn einzig darin findet, diesen Roman zu lesen und den Ernst des Lebens für kurze Zeit zu belächeln!

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Montag, 30. September 2013
Justin Torres „Wir Tiere“
Die drei Brüder, 7-10 Jahre alt, teilen alles, halten zusammen, und erleben traurige wie schöne Zeiten. Oft von den sehr jungen Eltern unbeaufsichtigt, die Mutter war erst 14 bei der Heirat mit dem hitzigen Puerto Ricaner, mischt sich Gewalt in ihr gemeinsames Spiel. Diese kennen sie von zu Hause; dort wird sich nicht nur leidenschaftlich geliebt, sondern auch gehasst und geschlagen. Nicht selten vor den Augen der Brüder. Während die Eltern versuchen, sich und die Kinder im eher armseligen Milieu durchzuschlagen, bleiben diese häufig auf sich gestellt. In dieser Zeit benehmen sie sich manchmal wie Tiere: sie fangen sie, quälen sie, fallen wie Heuschrecken in anderer Leute Gärten ein oder umringen den neuen Pick-up des Vaters „wie schlecht erzogene Hunde“. Sie beobachten ihre Eltern, ohne deren zuweilen exzessives Verhalten so richtig zu verstehen, dennoch kopieren sie es. Sie sehen „Ma“ und „Paps“ sich prügeln, aber auch wie sie sich körperlich lieben.

Der Autor beschreibt seine Charaktere anhand deren Verhalten; dessen was sie tun, oder auch nicht tun. Man liebt und hasst sie gleichermaßen. Zunächst glaubt man sich dennoch in der Erzählung einer typisch amerikanischen Familie zu befinden, die in armen Verhältnissen lebt. Die Situationen, die vom Jüngsten der Brüder geschildert werden sind mal lustig, mal anrührend und mal beängstigend; wie im richtigen Leben eben. Irgendwann allerdings kippt diese Stimmung. Sie wird gefährlicher, ernsthafter. Dunkle Ahnungen, die sich beim Lesen vielleicht schon angedeutet hatten, werden plötzlich klarer. Ab jetzt kann man nicht mehr wegsehen, obwohl man hofft, dass sich diese Ahnungen nicht bewahrheiten.

Dieser „Bruch“ in der Wahrnehmung des Gelesenen passiert schleichend. Sogar die Sprache ändert sich mit der Zeit. Plötzlich, ohne dass man es auf Anhieb begreift, spricht einen der Erzähler geradezu an, man wird zum Zeugen, ja vielleicht sogar mit in die Verantwortung gezogen für das Geschehene. Justin Torres ist unheimlich geschickt darin, den Leser zu lenken, ihn emotional zu manipulieren, bringt uns gedanklich an einen Punkt, wo man eigentlich nicht hin will. Er lässt uns zwischen den Zeilen lesen und baut eine unglaubliche Spannung auf, die einen sofort in Bann zieht, von der ersten Seite an.

Nur wenige Stunden hat es gedauert diesen schmalen aber inhaltsschweren Roman zu lesen, aber mindestens ebenso viele Stunden habe ich über das Gelesene nachgedacht, ja sogar im Buch zurückgeblättert, um sicher zu gehen, nichts überlesen zu haben. Auch wenn es mich tief betroffen zurücklässt, wird es eines der ganz seltenen Bücher sein, das ich noch einmal lesen werde!

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