Dienstag, 22. Dezember 2020
Jürgen Bauer „Portrait“
An einem gewissen Punkt im Leben angelangt, fragt Georg Menschen seines Umfelds nach deren persönlichen Erinnerungen, ihn betreffend. Am Ende sind es drei Monologe, in denen er selbst nur in den Erzählungen der anderen zu Worte kommt.

„Aber nicht, dass du glaubst, dass ich dich nicht liebgehabt hätte. Es ist nur anders gewesen, das Liebhaben. Deinen Bruder hab ich verstanden, dich nicht.“ (Seite 50)
Von vielen Schicksalsschlägen in ihrem eigenen Leben verbittert, findet Mariedl, die Mutter, nicht viele gute Worte für ihren Schorsch, wie sie ihn nennt. Griesgrämigkeit und Unverständnis sind vorherrschend in ihrem Bericht. Sie klagt an.

„Den Mund halt ich nie, wieso auch? Wenn dir einer blöd kommt, dann kommst ihm eben noch blöder […] und wenn einer nur komisch schaut, dann provozierst ihn ein bisserl, sonst hast keinen Spaß im Leben.“ (Seite 132)
Um den engen Konventionen des Elternhauses und des Dorfes zu entfliehen, sucht Gabriel als Jugendlicher schon sein Glück in Wien. Sein sexuelles Verlangen ist die Triebfeder seines Stricherdaseins in der Großstadt. Es sind schwere Zeiten für die Schwulenbewegung in den siebziger Jahren. Freiheitsdrang und Provokation bestimmen die Sprache des Liebhabers.

„Ich verliebte mich in dich, weil ich das Gefühl hatte, mit dir eine andere Machtdynamik erleben zu können, weil du mich mehr brauchtest als ich dich, …“ (Seite 265)
Von der eigenen Mutter weitgehend ignoriert, beruflich mäßig erfolgreich kommt Sara, die Ehefrau, unterkühlt und oberflächlich daher. Mit dem Wunsch möglichst wenig Engagement in diese Ehe zu bringen, schaut sie auf ihren eigenen Vorteil.

Inmitten dieser ganz unterschiedlichen Erzählungen fungiert der stille Protagonist Georg lediglich als Schnittmenge. Jürgen Bauer gibt jedem der drei Erzähler die eigene unverwechselbare Persönlichkeit, deren Authentizität er in Form der Sprache ausdrückt. Er nimmt hier kein Blatt vor den Mund und erzählt schonungslos und mit rhetorischem Geschick. Die Tiefgründigkeit der Worte lassen uns Leser*innen kaum Möglichkeit, uns emotional auch nur ein wenig rauszunehmen, lässt weder Ruhepausen noch inneren Abstand zu und holt uns auf teilweise tragische Weise immer wieder tief ins Geschehen.

Wenn ein Roman mich in eine Welt mitnimmt, die mir weitgehend unbekannt ist, meinen Horizont zu erweitern vermag, wenn er mich aufrüttelt, mich auch mal schockiert, ab und an unbequem ist und weh tut, wenn die Geschichte mich traurig macht und lange nach der Lektüre nicht vom Schlafittchen lässt, ...... dann ist es ein guter Roman.

Unbedingt lesen!

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Mittwoch, 28. Oktober 2020
Andreas Schäfer „Das Gartenzimmer“
Eine Villa in Berlin steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Andreas Schäfer, stellvertretend für einen Protagonisten. Die Geschichte erzählt von den Bewohnern dieses Hauses über mehr als ein Jahrhundert hinweg. Beginnend noch vor der Weimarer Republik und endend in jüngster Vergangenheit.

Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts macht das betuchte Ehepaar Adam und Elsa Rosen Bekanntschaft mit dem jungen, aufstrebenden Architekten Max Taubert. Schon bald geben Sie ihm den Auftrag, ihnen eine Villa in Grunewald zu bauen. Er habe alle Freiheiten, seiner Kreativität sei keine Grenze gesetzt. Alsbald beginnt Max, schon fast besessen von seinem ersten Projekt, Pläne für das Haus zu zeichnen. Alles ist genau durchdacht. Wegen der Schräge des Grundstücks wird zweistöckig geplant, jeder Raum, jede Nische nach Lichteinfall gestaltet. Auch gewaltige Säulen sollen das Gebäude schmücken.

Bei der Hauseinweihung im Jahre 1909, bei der die gesamte Berliner Prominenz aus Politik und Kunstschaffenden geladen ist, sind sich alle einig, dass von dieser Villa ein gewisser Zauber ausgeht. Der junge Architekt Max Taubert gilt fortan als der Begründer der Moderne. Nicht für jeden aber, der in den nächsten 100 Jahren das "Rosen-Haus", wie es genannt wird, bewohnt, hat es diese positive Wirkung. Für einige birgt es etwas Geheimnisvolles, löst eine gewisse Angst, ein ungutes Gefühl aus. Entwickelt sich zu einer Art Fluch, dessen man zu entfliehen sucht. Der wahre Grund dafür scheint, wie wir bald erfahren, in der Geschichte des Hauses zu liegen in der sich Verbrechen und Tragisches ereignete.

Andreas Schäfer erzählt seine Geschichte nicht chronologisch, sondern springt hin und her in den Zeitebenen. Lässt aber die einzelnen Teile sich parallel entwickeln. Aufgrund der langen Zeitspanne, die sich durch den Roman zieht, bleiben immer wieder gewisse „Räume“, Zeiträume unerwähnt. So sind wir Leser*innen hin und wieder gefordert, Begebenheiten selbst zusammenzusetzen. Letztendlich aber geht der rote Faden nie verloren.

Die zu Beginn des Romans detailfreudigen Schilderungen der Architektur sind durchaus für nicht versierte Leser*innen verständlich. Nach einem doch etwas holprigen Start fand ich mich gut in die Geschichte ein. Zwischendurch drohte mir das Verständnis der Zusammenhänge aufgrund kleiner Widersprüchlichkeiten in der Erzählung zu entgleiten. Am Ende bleiben diese kleinen Kritikpunkte nicht relevant, positive Eindrücke überwiegen. Das Lesevergnügen dieser außergewöhnlichen, gut durchdachten Story wurde dadurch in keinster Weise geschmälert.

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Samstag, 3. Oktober 2020
Gerhard Jäger „All die Nacht über uns“
„Und ein Schritt ist ein Schritt, er folgt der Zeit, durchschreitet den Raum, nirgends bleiben, nirgends stehen, nirgends Stillstand, ein ständiges Gehen, oder sollte er sagen ein ständiges weggehen? […] weg von inneren Bildern, die uns verfolgen und quälen, von den eigenen Wünschen, die sich nicht erfüllen lassen, weg von den eigenen Fehlern, die uns die Scham ins Gesicht treiben. Vielleicht sind wir alle ständig auf der Flucht […]“ (Seite 82).

Um eben dieses Thema, Flucht, geht es in Gerhard Jägers zweiten und letzten Roman. Und nicht nur die fremdländischen Flüchtlinge sind gemeint, die der Protagonist, ein Soldat ohne Namen, von seinem Turm aus an einer unbestimmten Landesgrenze abzuwehren versucht. Zur Not auch mit Waffengewalt, so der Befehl. Auch geht es um eine Flucht in der Vergangenheit, über die der Soldat in den Stunden der Wacht in den Aufzeichnungen seiner Großmutter liest. Nicht zuletzt, um sein eigenes Fliehen vor sich selbst, dem Leben und seinen Erinnerungen. Erinnerungen an schöne Zeiten, fröhliche Zeiten, seine große Liebe, aber auch an alles, was danach geschehen war. Noch immer halten den Soldaten auch die fremdländischen Augen innerlich gefangen, denen er bei kurzem Verlassen seines Wachturms begegnet war. Letztendlich ist er nicht nur Wind, Regen und Kälte ausgesetzt, sondern auch seinen Erinnerungen, Gefühlen und seiner Schuld. Und so fügen sich in dieser einen einsamen Nacht, die der Autor beschreibt, die Schicksale der Flüchtenden zusammen.

Durch Vermeidung jeglicher Namensgebung für Figuren und Ort schafft Gerhard Jäger ein universelles Bild der Handlung. Es könnte sich um irgendeinen Soldaten handeln, der Wachturm an jeder x-beliebigen Grenze stehen. Auch die Nacht könnte eine von vielen Nächten sein und doch spürt man die Verbindung zu Person, Ort und Zeit.

Der Autor hat die Gabe, Emotionen direkt und ohne Umschweife zu transportieren. Mit seiner außerordentliche Sprachgewalt und seinem Stil des Schreibens lässt er uns Leser*innen keine Zeit zum Durchatmen, keinen Raum für Oberflächlichkeiten. Die Kost ist eine Schwere, nicht einfach zu verdauen. So setzt er in seiner Geschichte einem noch so kleinen Quäntchen des Glücklichseins das Zehnfache an Melancholie und Tragik entgegen.

Ich selbst, obwohl dramatischen Romanen nicht abgeneigt, bin hier an meine persönliche emotionale Grenze des Erträglichen geraten. Am Ende ist es wohl eine Sache der Persönlichkeit, ob und wie weit man sich einlässt. Dennoch hätte ich um nichts in der Welt auf diesen ausdrucksstarken Roman verzichten wollen.


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Donnerstag, 20. August 2020
Giuliano Musio:“ Wirbellos“
Schon als Kind hat Martin das Gefühl, dass sich etwas Dunkles in ihm ausbreitet, etwas Düsteres in ihm wächst. So beschreibt er es für sich selbst. Aber nicht nur das macht ihn anders und zum Einzelgänger. Seine Stimme ist für einen Jungen viel zu hoch, die kleinen Augen liegen ungewöhnlich weit auseinander und er kann nicht Lügen. Er ist auch nicht zur kleinsten Schummelei imstande. Selbst die Eltern wissen es auszunutzen. In der Schule wird er gemoppt und belächelt bis er Oskar kennenlernt. Oskar lügt, dass sich die Balken biegen, erzählt jedem was ihm gerade so einfällt, ist fröhlich und vor allem beliebt und bewundert. Eine ungewöhnliche Freundschaft also, die sich da entwickelt.

Als auch Jahre später sogar Martins Freundin dessen Naivität auszunutzen weiß, beschließt Oskar kurzerhand seinem Freund das Lügen beizubringen. Zögernd erst lässt sich Martin darauf ein. Als Spiel oder Prüfung verpackt, kommt es am Flussufer zu einem verheerenden Zwischenfall, der nicht nur Martins Leben verändern soll.

Das Lügen bis zur Perfektion gelernt, zieht Martin später nach Bern, nimmt eine Stelle in der Zentralsterilisation des Krankenhauses an. Der Umgang mit benutztem chirurgischem Besteck scheint das dunkle Gewächs in ihm noch zu beflügeln. In der Stadt stellt er einer etwas älteren Frau nach und schnell ahnen wir, dass er etwas im Schilde führt. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Wie eine Schnecke ihre Schleimspur zieht Martin eine Spur der emotionalen Verwüstung hinter sich her und droht sich selbst zu verlieren.

Der künstlerischen Freiheit lässt Giuliano Musio wieder einmal freien Lauf, als könne er sich alles erlauben. Und was soll ich sagen: er kann! So holt er etwa das Mittelmeer direkt nach Bern, erzählt von Stränden, einem Hafen und auch einem Ozeaneum. Man vergnügt sich mit Delphin-Watching, Segeltouren und Flanieren auf der Promenade.

In diesem Setting siedelt der Autor seine Geschichte an, in der es an schrägen und skurrilen Figuren nicht mangelt. Kaum ein Autor amüsiert und überrascht mich mit seinen Erfindungen der Charaktere derart wie er. Aber nicht immer muss man sie mögen und selten sympathisiert man mit ihnen. Martin hat mich gehörig auf die Palme gebracht. Ich hätte ihn schütteln mögen, ohrfeigen und habe ihn wegen seines respektlosen Verhaltens geradezu verachtet. Aber ein Quäntchen Mitleid schwang immer mit.

Trotz dieses Sammelsuriums an Absurditäten, hält der Autor an diesem einen roten Faden fest, der uns am Ende nachdenklich macht. Der Kern dieser Geschichte ist ein sehr ernster, sodass einem beim Lesen ab und an das Lachen im Halse stecken bleibt. Genau diese Ambivalenz macht für mich die Bücher von Giuliano Musio so lesenswert.


Ebenfalls hier im Blog rezensiert:
Scheinwerfen
Keinzigartiges Lexikon


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Freitag, 17. Januar 2020
Jan Kjærstad „Berge“
Übersetzung Bernhard Strobel

Ich muss es gleich vorweg sagen, kann mit meiner Meinung nicht hinterm „Berge“ halten: ich bin begeistert! Bereits zum zweiten Mal hat mich der hierzulande noch nicht so bekannte norwegische Autor Jan Kjærstad mitgerissen. Sprachlich so herausragend und besonders, der Lesegenuss vergleichbar mit dem Schlürfen eines guten Weines, mit langem Abgang. Aber zuerst zum Inhalt:

In einer Ferienhütte, im Wald, in der Nähe von Oslo werden fünf Leichen gefunden, allesamt auf bestialische Weise ermordet. Bald wird publik, dass sich unter ihnen der Vorsitzende der Arbeiterpartei Arve Storefjeld und dessen erwachsene Tochter Gry, ebenfalls stark politisch engagiert, befinden. Statt jetzt aber dem üblichen Krimigenre, Polizei, Ermittlung und Täterüberführung zu folgen, geht der Autor einen anderen Weg. Er stellt Überlegungen an, wer um alles in der Welt, dem kleinen friedlichen Norwegen schaden will. Sollte es sich etwa um einen Terroranschlag halten? Das ganze Land ist erschüttert, gilt es doch als Nation, die sich nicht einmischt, aus den großen politischen Debatten Europas und der Welt heraushält und den Ruf als friedliches Völkchen in beschaulicher Natur genießt. Ein solcher Vorfall rüttelt alle auf, Urteile sind schnell gefasst und man strebt nach einer erfolgreichen und möglichst schnellen Aufklärung.

„Das war das Wertvollste, das wir hatten.[…]Auch in der Zeit nach dem Krieg hatten wir uns meist mit Glanz bewährt. Durch Heraushalten nämlich. Es war uns gelungen, abgeschieden zu leben, unsere Verhältnisse so beneidenswert einzurichten, dass wir es vermeiden konnten, hineingezogen zu werden. In den Dreck, in die Barbarei der Gewalt.“ (Seite 172)

Um das Große und Ganze zu verdeutlichen bedient sich Jan Kjærstad dreier Personen. Zum einen Ine Wang, erfolgreiche Journalistin, die, auch mit schlechtem Gewissen, in diesem spektakulären Ereignis ihre Erfolgschancen wittert (gerade erst hat sie den großen Politiker Arve Storefjeld interviewt und ein biografisches Manuskript erstellt). Zum Zweiten, der angesehene Richter Peter Malm, den wir Leser als besonnenen, aber auch sehr speziellen Zeitgenossen kennen lernen. Die meiste Zeit ist der Pedant mit sich selbst und seinen eigenen Interessen beschäftigt, bis er aufgrund des mutmaßlichen Anschlages beginnt, die derzeitige Situation im Land zu analysieren. Und last but not least Nicolai Berge, dem oppositionellen Flügel der Arbeiterpartei zugehörig, der sich in jungen Jahren Hals über Kopf in die junge Gry Storefjeld verliebt hatte.

Der Autor bedient sich des Mordfalls lediglich als Ausgangspunkt, keinesfalls als Mittelpunkt des Romans. Vielmehr lässt er daraus seine Geschichte entstehen, eine Geschichte über die Gesellschaft Norwegens, politische Machenschaften, Vorurteile und der allgemeine Hang zur Harmonie.
Mit seiner Sprachbegabung, Eloquenz und Empathie für die Menschen wird Jan Kjærstad in Zukunft bei meiner Lektüreauswahl immer ganz vorne dabei sein.

Und so wird das zuletzt gelesene Buch des Jahres zum Highlight desselben.



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Freitag, 30. August 2019
Mareike Fallwickl „Das Licht ist hier viel heller“
Wo ist sie geblieben, die Zeit, in der er ein erfolgreicher Schriftsteller war, ein gefragter Mann bei der Presse, in Literaturkreisen und bei den Frauen. Nichts hat er anbrennen lassen damals, in keinem der Bereiche. Jetzt haust Maximilian Wenger mehr schlecht als recht in einer kleinen Mietwohnung; um ihn herum herrscht Chaos. Seine Schwester versorgt ihn mit Essen während er sich gehen lässt. Alles scheint verloren, seine Frau, sein Haus, seine Kinder und vor allem seine Inspiration. Täglich schlurft er ungewaschen und mit Schlappen an den Füßen, sich am mittlerweile dicken Bauch kratzend, zum Briefkasten. Eines Tages findet er dort einen handgeschriebenen Brief, adressiert an seinen Vormieter. In Abständen kommen weitere Briefe und Wenger wird neugierig. Er beginnt darin zu lesen, fasziniert von der poetischen Sprache, den klaren Worten, die von einem schrecklichen Ereignis erzählen.

Zwischenzeitlich befindet sich seine Exfrau, eine erfolgreiche Influencerin, mit ihrem neuen Partner auf Reisen, um ein Video für ihren Beauty- und Fitnesskanal zu drehen. Die fast volljährigen Kinder der Wengers, Zoey und Spin, sind wie so oft auf sich selbst gestellt, sie kennen das, es war nie anders. Die Geschwister haben deshalb eine ganz besondere Verbindung. Sie sind füreinander da, stehen einander bei in Krisenzeiten und geben sich Halt. Beide Jugendliche versuchen in dieser Zeit ihre eigenen Wege zu finden, privat wie beruflich. Die kurzen Besuche beim Vater überbrücken Sie mit telefonieren, chatten oder Spielen am Handy. Bei einem dieser verhassten Pflichtbesuche entdeckt Zoey die Briefe, liest darin und findet sich in den traurigen, aber auch zornigen Worten der fremden Frau wieder. Denn auch Zoey selbst ist etwas zugestoßen, von dem kaum jemand weiß. Ihren Vater hätte sie da am dringendsten gebraucht, doch der war mal wieder nicht verfügbar.

Was zu Beginn des Buches humorvoll, fast satirisch anmutet, trägt im Ganzen gesehen einen tiefgründigen Kern. Der Themen gibt es viele in Mareike Fallwickls zweitem Roman. Im Vordergrund aber stehen Machtmissbrauch, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und der Umgang mit Grenzen, die gezogen und im nächsten Moment von anderen missachtet werden. Motive also, wie sie aktueller und wichtiger nicht sein könnten. Die Autorin legt außerdem den Finger tief in die Wunde unserer heutigen kurzlebigen Gesellschaft, in der scheinbar Erfolg und Ansehen mehr zählen, als alles Andere. Man könnte den Text als kleinen Rundumschlag bezeichnen, bei dem unter anderem die gesamte Literatur- und Verlagsbranche und die Neuen Medien eine gehörige “Watschen“ erfahren.

Sprachlich lässt sich Mareike Fallwickl von ihren Figuren leiten. Mal obszön und chauvinistische, mal frech, fesch und spritzig und ein anderes Mal sehr rührend und poetisch. Obwohl sie hin und wieder doch für meinen Geschmack zu tief in die Klischeekiste gegriffen hat, finden sich in ihrem Roman eine Menge herausragender Gedanken und Sätze. Das, was sie über eine Überlegung Wengers in folgendem Zitat schreibt, beherrscht sie selbst aus dem Effeff.

„Weil diese Energie, die durch die Sprache in den Briefen flirrt, ihn erinnert an die Macht, die er selbst einmal besessen hat. Er hat gespürt, was Worte auslösen können, was auch er einmal auslösen konnte mit Worten, alles eigentlich, Worte waren sein Stoff, sein Atem, sein Wesen. Er konnte sie herumwirbeln, aufeinanderstapeln, Löcher lassen dort, wo es Still sein musste. Und die Worte, die auf die Stille folgten, waren noch viel lauter.“ (Seite 54)

Eine ganze Palette an Gefühlen hat der Roman in mir ausgelöst, die wenigsten davon waren angenehm. Ein Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren einlädt. Lasst uns diese Einladung annehmen!


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Dienstag, 9. Juli 2019
Rebecca Hunt „Everland“
1913 entdeckt man eine kleine Insel in der Antarktis und entsendet von einem Segelschiff aus ein Team von drei Personen, um die Insel zu erkunden, geologische Proben zu nehmen und sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Schon bald ist der Name für dieses neue Eiland gefunden: Everland. Als Leiter des Teams wird der erste Offizier Napps benannt, begleitet vom erfahrenen Matrosen Millet-Bass und dem jungen Wissenschaftler Dinners. Warum ausgerechnet dieser unerfahrene „Grünschnabel“ den Zuschlag für die Expedition bekommt stößt bei den Besatzungsmitgliedern auf Unverständnis. Wetten werden abgeschlossen, wie lange dieser wohl auf Everland überleben möge. Kaum auf der neuen Insel angekommen, häufen sich die Probleme, menschlicher und witterungsbedingter Natur.

Fast 100 Jahre später, 2012, reist noch einmal ein Schiff in Richtung Everland. Teils auf den Spuren der ersten Entdeckung, aber auch um biologische Forschung zu betreiben. Die Tiere der Antarktis sollen gezählt und markiert und eventuelle Bewegungen der Eisberge dokumentiert werden. Wieder wird ein Team von drei Personen mit kistenweise Proviant auf der Insel abgesetzt. Mit dabei und Chef des Teams: Degger. Für ihn wird dies die letzte Expedition sein bevor er sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückzieht. Zweite im Bunde: Jess, die jüngste unter ihnen, erprobte Assistentin der Feldforschung, fleißig, zupackend, und geradeheraus. Und auch hier wieder eine Unerfahrene: die Wissenschaftlerin Brix, die unter den anderen einen schweren Stand hat. Abermals kriselt es in der kleinen Arbeitsgemeinchaft.

In einem Interview mit ihrem Verlag Luchterhand erklärt die Autorin Rebecca Hunt, sie wolle die Handlung ihres Romans „in zwei verschiedene Zeitebenen aufteilen, in denen sich das Rätsel parallel entwickelt und gleichzeitig auflöst.“ Und genauso ist es ihr gelungen. Die Erzählstränge wechseln mit jedem Kapitel zwischen 1913 und 2012 und bewegen sich auf ein gemeinsames Ende zu.

Die eisige Landschaft der Antarktis beschreibt sie außerordentlich bildhaft, die Figuren menschlich und authentisch. Durch die Dreierkonstellation der beiden Teams entstehen immer wieder Allianzen, die aber durch die Geschehnisse stetig wechseln. Wie bei einem Eisberg, dessen größter Teil unter der Meeresoberfläche liegt, verbirgt sich das Wesentliche dieses Textes zwischen den Zeilen und dem Umgang der Personen miteinander. Die Urgewalten von Mensch und Natur erschweren beide Expeditionen. Es kommt nicht nur zu extrem rasch wechselnden Wettereinflüssen, sondern die Befindlichkeiten der sehr unterschiedlichen Charaktere gefährden letztendlich die Vorhaben.

Ich würde dieses Buch weniger als Abenteuerroman bezeichnen, sondern als Psychogramm der Menschheit, die sich offensichtlich in 100 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Die Gleichartigkeit der Verhaltensmuster sticht als besonderes Merkmal aus der Handlung heraus; meiner Meinung nach der wichtigste Aspekt. Kontroverse Meinungen habe ich seit Erscheinen des Buches verfolgt. Viele von ihnen kann ich gut nachvollziehen, andere nicht. „Everland“ ist wohl eins der Bücher, über das man sich unbedingt selbst ein Urteil bilden sollte. Für mich war die Lektüre ein wahrer Hochgenuss.


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Dienstag, 7. Mai 2019
Berni Mayer „Ein gemachter Mann“
In diesem Roman erzählt der Autor Berni Mayer von einer Jugend in den 90er Jahren; die Zeit der MP3-Player, des Modems und der Salatschleuder, wie er es beschreibt.

Robert Bley hangelt sich durchs Abitur ohne den geringsten Plan, was er mit seinem Leben anfangen will. Im fehlt es an Ehrgeiz, an Disziplin und Orientierung. Das zumindest würden seine Eltern sagen. Sie betreiben eine Gärtnerei, in der Robert ab und zu aushilft. Übernehmen möchte er den Betrieb aber nicht, DAS jedenfalls weiß er. Und so werden wie seine Eltern, spießig und pflichtbewusst, DAS will er ebenfalls nicht. Also lässt er es locker angehen, hängt erst einmal eine Weile ab und denkt am Rande über ein Studium der Germanistik nach.

Tatsächlich schreibt er sich an der Uni Regensburg ein. Als die ersten Vorlesungen beginnen und er sich eine kleine Wohnung am Rande der Stadt mehr schlecht als recht eingerichtet hat, wird ihm schnell klar, dass er dazu eigentlich auch nicht richtig Lust hat. Also gibt er sich ausgiebigen Kneipenbesuchen mit viel Alkohol hin, bekifft sich hin und wieder mit seinen Kommilitonen und wird Schlagzeuger in einer Band. Geld verdient er sich mal hier mal da und genießt seine Freiheit in vollen Zügen. Robert will möglichst alles, möglichst gut und schnell, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ambitionen entwickelt er lediglich bei der Auswahl seiner Freundinnen, die sich alle weit über seinem Niveau bewegen. In einer Beziehung giert er dann nach Aufmerksamkeit und Zuwendung und wird dadurch wehleidig und zum Anhängsel.

Die Zeit vergeht. Und während Robert neben halbherzigem Studium noch immer seinen spätpubertären Launen folgt, bemerkt er voller Neid, dass alle um ihn herum erwachsen werden, ihren Weg gefunden haben und daran arbeiten, diesen zu ebnen.

Hier wird ein Lebensabschnitt beschrieben, wie ihn sicher jeder zweite Jugendliche so oder so ähnlich erlebt hat; von daher wenig spektakulär. Ein bisschen mehr Witz und Esprit hätte dem Roman meiner Meinung nach gut getan. Vielleicht spiegelt aber auch gerade das die friedliche, ja fast langweilige Zeit der Neunzigerjahre wider. Der „Protagonist“ ist trotz seiner charakterlichen Eigenartigkeiten nicht unbedingt unsympathisch. Allerdings hat sein Verhalten bei mir eine ganze Menge ausgelöst: mal mochte ich ihn schütteln und schubsen, ein anderes Mal hätte ich ihn anschreien mögen, ihm gewaltsam seine Augen öffnen und ihm Worte an den Kopf werfen, die er auch von einem Chef zu hören bekommt: “Ich wiederum glaub, dass du ein wahnsinnig schlauer Bursch bist, aber ein stinkfauler und wehleidiger Hund!“ (Seite 199). Ein seltenes Mal aber hat er mir sogar leidgetan.

Anhand der Danksagung am Ende des Romans, ist zu vermuten, dass es sich bei dem Protagonisten um den Autor selbst handelt, oder zumindest die Geschichte an seine eigenen Erfahrungen angelehnt ist. Sollte das so sein, hat Berni Mayer sich gut hinterfragt und analysiert und hat am Ende dann wirklich die Kurve gekriegt, hat den Status des „gemachten Mannes“ vielleicht sogar erreicht.

Kurzum: gute, solide Unterhaltung!


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Donnerstag, 4. April 2019
Demian Lienhard „Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat“
„Lebende, denke ich, verändern sich die ganze Zeit. […] Aber ein Toter, ist etwas Endgültiges.“ (Seite 56)

Der Jugendlichen Alba geht es nicht wirklich gut, sie leidet. Ja, woran eigentlich? Sie leidet an der Welt und dem Leben im Allgemeinen und den vielen Verlusten, die sie in ihren jungen Jahren schon hinnehmen musste, im Speziellen. Denn, man muss es so sagen, es wird viel gestorben in ihrem Umfeld. Schon einige aus ihrer Schule haben sich von der nahe gelegenen Brücke gestürzt. Und auch zu Hause war sie bereits mit dem Tod konfrontiert und bleibt mit ihrer Mutter, mit der sie sich nicht allzu gut versteht, alleine zurück.

Im Krankenhaus liegend scheint sie etwas Abstand von alledem zu kriegen. Hier trifft sie nicht nur eine Mitschülerin und kommt dem Gehilfen der Cafeteria etwas näher, sondern lernt Jack kennen, der eigentlich René heißt und in den sie sich unsterblich verliebt. Bei ihnen allen gibt sie sich wortgewandt, frech und gewitzt, weiß ihre innerliche Zerrissenheit gut zu verstecken. In Jacks Zuhause, bei seinen Eltern, findet sie bald das, was ihr zu fehlen scheint: Aufmerksamkeit, Liebe und Geborgenheit. Aber auch diese Familie ist längst nicht mehr vollständig. Trotzdem denkt Alba, dass sich ihr Leben von nun an in eine andere Richtung entwickeln wird. Bis zu einem Problem, das sich so einfach nicht lösen lässt. Sie gerät in einen Abwärtsstrudel und in ein gesellschaftliches Milieu, das sich keine Mutter für ihre Tochter wünschen würde.

Der Autor versetzt sich in seinem Debütroman ganz in die Lage seiner Protagonistin, erzählt aus deren Sicht und in der Gegenwartsform. Dadurch wird die Unmittelbarkeit der Geschehnisse deutlich. Allerdings hat mir Albas teilweise pubertäres Geplapper einiges an Geduld und Durchhaltevermögen abverlangt. Die teilweise verquere Satzstellung verhinderte oftmals ein flüssiges Lesen („Jack war sauer auf mich deswegen und ich war es. Aber ich war auch sauer auf Jack. Er war nicht sauer auf Jack. Sauer auf mich war ich, […] Seite 202). Ebenso gestört haben mich Albas merkwürdige Metaphern, so “kleben Blicke wie Wachsstreifen“ oder sie fühlt sich “wie eine traurige Ölpumpe aus einem Film mit postnuklearen Motorradfahrern“.

Tatsächlich schafft es der Autor, bzw. Alba, in der ersten Hälfte des Romans seitenlang zu reden, ohne jedoch wirklich viel gesagt zu haben. Dann aber nimmt die Geschichte an Fahrt auf und wir werden Zeuge eines dramatischen, sozialen Abstiegs.

Demian Lienhard beschreibt sehr eindringlich eine Generation in der Schweiz der achtziger Jahre, die sich einerseits politisch engagiert, demonstriert und sich so für die Gesellschaft einsetzen will, sich andererseits aber auch durch eigenes Verschulden in den sozialen Abgrund befördert. Hier ist meiner Meinung nach ein schwieriges Thema zu gewollt und bemüht in die flapsige Sprache einer Jugendlichen gepackt. Ein Aufrütteln und Nachdenken über die Problematik ist aber auf jeden Fall gelungen.

Kein Rundum-sorglos-Roman, der aber sicher seine Leser finden wird!

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Freitag, 15. März 2019
Julian Barnes „Die einzige Geschichte“
Die 1960er Jahre waren allenthalben eine Zeit der Revolte. Gerade England, bzw. London, galt als Vorreiter einer neuen Kultur. Jugendliche kämpften für Freiheit und gegen das allgemeine Spießertum. So auch der 19-jährige Paul. Er lebt bei seinen Eltern in der Nähe der Hauptstadt und rebelliert gegen jegliche Konventionen. Er missachtet sämtliche Regeln, die Eltern sind ihm zu konservativ und die Ehe hält er für angestaubt und bourgeois, und überhaupt: Erwachsene nerven ihn, nein, er verabscheut sie geradezu. Er will beweglich bleiben, frei bleiben, sich nichts und niemandem unterordnen. Um ihm, was „ein nettes Mädchen“ angeht, ein wenig auf die Sprünge zu helfen, meldet seine Mutter ihn im Tennisclub an. Und gerade weil alle damit rechnen, dass Paul genau das ablehnt, geht er trotzig zum Probetraining. Und tatsächlich findet er dort seine erste große Liebe.

Aber es wäre nicht der aufsässige Paul und es wären nicht die 60er, wenn alles nach Plan verliefe. Die Auserwählte ist die etwa 20 Jahre ältere Susan; verheiratet und hat zwei Töchter, lebt in einem großen Haus und gehört zur „Upper Class“. Während alle um sie herum dem ungleichen Paar Unverständnis entgegenbringen, hält Paul sich für unglaublich cool und souverän. Der Rauswurf aus dem Tennisclub wegen dieses „ungeheuerlichen Skandals“ ist für ihn die Krönung seiner Unangepasstheit.

Paul geht bald im Haus der McLeods ein und aus, von Susans Ehemann eher widerwillig geduldet. Später, als ihre Beziehung enger und ernster wird, merkt Paul, dass Liebe allein nicht immer ausreicht, dass Beziehung auch Arbeit und Verantwortung bedeutet. Und so kommen den beiden Liebenden die verschiedensten Dinge dazwischen, Konflikte, Alltagsfliegen, Realitäten; kurz gesagt: es kommt ihnen das Leben dazwischen.

„Gewisse Erkenntnisse sollten erst später im Leben kommen, wenn sie vielleicht weniger schmerzlich sind.“ (Seite 181)

Julian Barnes zeichnet ein eher unromantisches, ungeschöntes Bild vom Leben und der Liebe. Nichts wird in sanfte Wolken gepackt, noch durch eine rosarote Brille betrachtet. Er lässt seinen Protagonisten aus dem Heute auf die erste Liebe zurückblicken. Lässt ihn in seinen Erinnerungen kramen, ihn analysieren und sein Verhalten genauestens unter die Lupe nehmen. Erst jetzt scheint Paul klar zu werden, dass der Grat zwischen Liebe und gegenseitiger Abhängigkeit ein schmaler ist. Der Autor schaut genau hin, geht ins tiefste Innere seiner Figur, die nicht unbedingt sympathisch daherkommt, aber authentisch und menschlich. Und gerade diese Beschreibung des Menschlichen mit all seinen Schwächen und Fehlern macht für mich diesen Roman so lesenswert. Ich hatte den Eindruck, als rechne Julian Barnes mit der Vorstellung der romantischen Liebe ab. Verpackt es in einen sprachlichen Ausdruck, der je nach Perspektive (junger Paul, erwachsene Paul) wechselt. Von jugendlich, spritzig, naiv zu weise, erfahren und eloquent. Auch spricht er zwischendurch den Leser immer wieder direkt an und macht ihn damit zu einer Art Verbündeten.

Ein gelungenes Psychogramm eines Liebenden!


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