Montag, 11. März 2019
Jocelyne Saucier „Niemals ohne sie“
[…] der Geruch nach warmem Gras, die kühle Brise aus dem Wald, die über die grausamsten Details unserer Vergangenheit streicht, […]. Ich lasse die Bilder auf mich einstürmen, halte die stärksten fest, […] lasse mich ersticken, erdolchen, aufschlitzen, massakrieren, vernichten, und wenn ich tot bin, wenn ich nichts mehr spüre außer den Boden dieses abgrundtiefen Lochs aus Schmerz, fahre ich weiter […]. (Seite 204)

Mehr als 30 Jahre haben sich die Mitglieder der Familie Cardinal nicht mehr gesehen. Jetzt, 1995, treffen sie sich in einem Luxushotel zu einem Kongress. Dem Vater soll, über 80-jährig, eine Auszeichnung zum besten Erzsucher zuteilwerden. Schon im Foyer begegnen sich die 21 Geschwister; die Wiedersehensfreude scheint sich jedoch in Grenzen zu halten, keiner kann dem anderen in die Augen schauen und schnell stieben sie auseinander. Denn sie verbergen ein Geheimnis, das wie ein Schatten über der Familie liegt.

An dieser Stelle könnte ich ausführlich die offensichtlichen Fakten des Inhalts beschreiben: Familie lebt in heruntergekommenem Haus im kleinen Ort Norco; Vater hatte Zinnvorkommen entdeckt, dadurch Hoffnung auf Wohlstand; daraus wurde nichts; Minen wurden bald wieder geschlossen; viele Bewohner des Ortes verloren ihre Existenz; geblieben waren Frust und unbändige Wut. Das alles aber ist Kulisse und Voraussetzung für das, um was es in diesem Roman eigentlich geht. Denn die wahre Geschichte liegt dazwischen, unter der Oberfläche. Dazu später mehr.

Der Vater der Familie verbrachte seine Zeit im Wald mit der Erzsuche oder im Keller, in dem er seine Gesteinsproben katalogisierte, die Mutter stand in der Küche, um ihre Lieben mit Essen zu versorgen und zog sich abends auf ihr Zimmer zurück. Die Kinder waren meistens auf sich gestellt und verbrachten die Tage mit gewaltsamen Straßenkämpfen, Brandstiftungen und kleine Sprengungen mit Dynamit. Ihren Alltag zu Hause regelten sie mithilfe einer strengen Hackordnung unter den Geschwistern. Das führte zu zusätzlichem Streit und Unfrieden. Besonders war es Angele, die mit ihrer Art den Neid und Spott der anderen auf sich zog. Denn Angele war anders, klüger, besonnener, friedfertig. Sie wollte glücklich sein und sehnte sich nach einem besseren Leben. Als ihr ein reiches Ehepaar eine Ausbildung in einer Klosterschule ermöglichte, drohte sie vollends ins Aus der Familie zu geraten. Immer öfter war sie nun den Schikanen der älteren Geschwister ausgesetzt.

Die kanadische Schriftstellerin Jocelyne Saucier hat hier meiner Meinung nach einen ganz großen Roman in atemberaubender Sprache geschrieben. Das ungewöhnliche Setting, die vielfältigen Charaktere in dieser speziellen Familienstruktur und letztendlich die emotionale und herausragende Geschichte sind ein besonderes Leseerlebnis. Der Kern und die Bedeutung liegen tiefer, als zunächst zu erwarten. Es geht um die Sozialisation der Figuren, um die Interaktion zwischen Dorfbewohnern und den Mitglieder der Familie einerseits und der Beziehungsgeflecht zwischen den Geschwistern der Cardinals auf der anderen Seite.

Die Autorin lässt etwa eine Handvoll der im Mittelpunkt stehenden Kinder aus eigener Sicht erzählen. Sie versieht jeden dieser Figuren mit eigenem Tonfall und Wesensart. Sehr einfühlsam bereitet sie den Leser Kapitel für Kapitel auf ein tragisches Erlebnis vor, dass zu Beginn des Buches lediglich als dunkle Ahnung zu spüren ist. Eine Weile braucht es, um sich lesend den Begebenheiten anzupassen, dann aber wird man mitgerissen von der Spannung und der Einzigartigkeit. Die Autorin verlangt dem Leser emotional einiges ab und lässt ihn fast bis zum Schluss im Unklaren über das Geschehen, dass das zukünftige Leben aller Familienmitglieder verändern sollte.

Ein Buch, das man verkraften muss, das aber auch den eigenen Horizont erweitert und nach dessen Ende man nicht einfach ein anderes beginnt. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass dieser Roman zum Besten gehört, das ich seit Langem gelesen habe!


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Freitag, 1. März 2019
William Kent Krueger „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“
Der mittlerweile erwachsene Frank Drum erzählt uns von 50 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die sein Leben und das seiner Familie für immer verändert haben und das Ende seiner Kindheit bedeuteten. Geschehen in diesem einen langen, sehr heißen Sommer 1961 in Minnesota.

Die Beschaulichkeit der Kleinstadt New Bremen gerät ins Wanken, als der junge Bobby Cole tot auf den Eisenbahngleisen nahe der Stadt gefunden wird. Eine große Trauer befällt die Bewohner. Trost und Seelsorge finden sie bei dem Methodistenpfarrer Nathan, Franks Vater. Zuständig für drei Gemeinden, spannt dieser oft die ganze Familie ein. So helfen Frank und sein kleiner Bruder Jake bei den Vorbereitungen der Gottesdienste, die Mutter leitet den Kirchenchor und die ältere Tochter Ariel begleitet sie an der Orgel.

Die Kinder New Bremens werden angewiesen, nicht auf den Eisenbahngleisen an der Brücke zu spielen, und obwohl des Verbotes, oder gerade deswegen, zieht es den 13-jährigen Frank genau an diesen Ort. Am Rockzipfel stets den stotternden kleinen Bruder Jake. Aus kindlicher Neugier wollen die beiden herausfinden, was mit Bobby geschehen ist. Als sie an diesem Tag von der Eisenbahnbrücke herabblicken, entdecken sie am Ufer des Minnesota River einen leblosen Landstreicher, über ihn gebeugt ein alter Sioux Indianer. Bald darauf scheint nicht nur für die beiden Jungen klar zu sein, dass es sich beim Tod des kleinen Bobby Cole nicht um einen Unfall handelte.

Nach den beiden Todesfällen kehrt etwas Ruhe ein, alle gehen ihren Beschäftigungen nach, die Polizei ermittelt, Nathan konzentriert sich auf seine Gottesdienste, Mutter und Tochter beschäftigen sich mit einem musikalischen Auftritt und die beiden Jungs tun Dinge, die kleine Jungs eben so tun in einem heißen Sommer in Minnesota. Dann plötzlich verschwindet Ariel und die Welt der Familie Drum stürzt zusammen.

„Die Zeit im Hause Drum veränderte sich in dieser Nacht. Wir traten in eine Phase ein, in der jeder einzelne Augenblick zugleich mit vollkommen unerlässlicher Hoffnung und grauenhaften, fast unerträglich schlimmen Befürchtungen aufgeladen war. Vaters Reaktion bestand im Beten.“ (Seite 236)

In ruhigen Bildern und mit sanfter Sprache beschreibt der Autor Kleinstadt und Umgebung, spricht alle Sinne des Lesers an und schafft trotz tragischer Umstände eine nahezu friedliche Atmosphäre. Er führt uns durch die Geschichte, nicht ohne uns ab und zu in die Irre zu leiten. Seine Charaktere zeichnete er mit viel Einfühlungsvermögen und Detail. Ganz besonderen Wert legt er hier auf die beiden Brüder, die so unterschiedlich sind wie zwei Seiten einer Medaille. Der eine wild und draufgängerisch, ohne Furcht, der andere zurückhaltend und ängstlich, aber mit hoher emotionaler Intelligenz. Die Unterschiedlichkeit all seiner Figuren in diesem Roman lässt jeden anders mit den Ereignissen umgehen.

Zwischendurch gestalteten sich für mich einige Seiten etwas zäh, doch dann entwickelte der Text eine Dynamik, der ich mich nur schwer entziehen konnte. Im Nachhinein betrachtet waren aber genau diese Seiten notwendig, um zu begreifen, an welchem Punkt eine Veränderung aller stattgefunden hat und worin der große Unterschied zwischen Glück und Unglück liegt.

Ein sehr gefühlvoller Roman, der nachdenklich macht und Fragen aufwirft. Ist immer alles so, wie es scheint? Halten wir uns an Vorurteilen fest, um die Wahrheit nicht zu erkennen? Lohnt sich ein zweiter Blick auf die Dinge? Ist es nicht ratsam, die eigene Sicht auf die Welt zu verändern, statt darauf zu hoffen, dass die Welt sich ändert?


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Dienstag, 15. Januar 2019
Yael Inokai „Mahlstrom“
„Mahlstrom“, einen besseren Titel hätte dieser Roman nicht haben können, bedeutet er doch so viel wie Sog oder Strömung. In diesen wird man als Leser, mag es sich jetzt auch abgedroschen anhören, förmlich hineingezogen. Alles beginnt mit dem Auffinden einer toten jungen Frau im Flusslauf eines Bergdorfes. Mit einem schweren Mantel bekleidet wird sie aus dem Wasser gezogen. Offensichtlich handelt es sich um Selbstmord. Im Dorf wird diese Tatsache unter dem Mantel des Schweigens begraben. Zu Barbaras Begräbnis finden sich alle ein, bis auf zwei junge Männer, Hans und Yann. Hans hat das Dorf schon vor Jahren verlassen, ohne Gruß, ohne Abschied. Yann ist der Zugezogene, der irgendwann aus der Stadt, die für die anderen Kinder unvorstellbar weit weg war, mit seinen Eltern ins Dorf kam. Beide aber gehörten zu dieser einen Clique heranwachsender Kinder, die sich bald nach einem tragischen Ereignis aus dem Weg gingen.

Was es mit dem Tod Barbaras auf sich hat und wer diese junge Frau eigentlich gewesen ist, erfahren wir von einer Hand voll Menschen, die sie wohl am besten gekannt haben. Die Autorin gibt diesen Erzählern nicht nur eine eigene Gestalt, sondern jedem auch eine persönliche Sprache. Aber nicht unbedingt das, WAS sie schildern scheint wichtig, mehr noch, was sie NICHT erzählen, was weggelassen wird. Sie teilen ein Geheimnis, alle im Dorf. Es gibt Dinge, die möglichst verschwiegen gehören, die die Beteiligten verdrängt zu haben glaubten, bis dann eines Tages ……..

Das Außergewöhnliche an diesem Roman ist für mich die Art des Erzählens. Yael Inokai lässt dem Leser Raum für Interpretation, fürs Hineintauchen, fürs Nachempfinden und Erspüren der Atmosphäre, die sich wie etwas Dunkles durch den ganzen Text zieht. Sie vermeidet es, mit harten Fakten zu erschlagen, bleibt oft diffus und etwas geheimnisvoll. Stück für Stück, Seite um Seite wird die Ahnung dessen, was damals geschehen ist, greifbarer.

„Dieser einsame Tod passte nicht in die Sprache, mit der man sich hier über Alltäglichkeiten und Dramen austauschte, als wäre Leben immer das, was die anderen führen, während man selbst unbehelligt davon bleibt.“ (Seite 153)

Am Ende war ich traurig und erschüttert, nachdenklich, aber auch begeistert von diesem kleinen großen Roman.


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Montag, 19. November 2018
Salih Jamal „Orpheus“
„Außer der Liebe gibt es kein größeres Gefühl als das von Musik, wenn sie dich erfasst, dich zieht, schiebt, umweht oder anhaucht. Wenn sie dich ergreift und dich auf ihren Schwingen einem Adler gleich schwebend über alles Irdische emporhebt und fortträgt.“ (Seite 100)

Orpheus und sein jüngerer Bruder sind die Enkel in einer Familiendynastie, an deren Spitze der Großvater Zeus steht. Gewaltbereit und despotisch wacht er über das gesamte Familienimperium, scharrt die Mitglieder seiner Sippe um sich wie Jünger und duldet keinerlei Widerspruch. Auch Orpheus‘ große Liebe Nienke ist mit eingebunden, als Anwältin in der Firma Zeus‘ angestellt. Orpheus selbst frönt seiner Musikleidenschaft und hält sich neben den Auftritten mit seiner Band mit kleineren Jobs über Wasser. Eines Tages findet Nienke Ungereimtheiten in den Papieren des Alten und glaubt ihn nach einiger Recherche mit einem alten Mordfall in Verbindung bringen zu können. Orpheus ist außer sich, hadert anfangs mit sich, ist dann aber bereit, gegen den eigenen Großvater vorzugehen. Und dann verschwindet seine Geliebte eines Morgens, und seine Gedanken drehen sich fortan nur noch um die vermisste Nienke. Lediglich mit schönen Erinnerungen an seine Liebste hält sich Orpheus aufrecht.

Ein Buch der Extreme und den, auf den ersten Blick, stilistischen Unvereinbarkeiten. Auf den zweiten Blick fügt sich manches ineinander. So orientiert sich der Autor zum Beispiel an der griechischen Sage um Orpheus und Eurydike und holt die Basis der Geschichte in die Neuzeit. Auch funktioniert es, Literatur und Musik in Einklang zu bringen, obwohl man sich fragen könnte wie der „Time Warp“ aus der Rocky Horror Picture Show zur „Mondscheinsonate“ von Beethoven passt. Jedes Kapitel ist mit einem Musikstück überschrieben und so begegnen sich Cat Stevens und Peer Gynt wunderbar auf musikalischer und literarischer Ebene. Damit hat der Autor absolut meinen Geschmack getroffen.

Salih Jamal lässt keine Grauzonen zu, bei ihm gibt es nur Schwarz und Weiß. So auch seine Sprache: auf der einen Seite über die Maßen poetisch und einfach schön zu lesen, auf der anderen Seite obszön, geradeheraus und kaum zu ertragen. Und genau hier hat es für mich nicht den erwarteten Zusammenhalt gefunden, zumal beides aus einer Perspektive erzählt wurde. Abgesehen davon, dass es mir sprachlich etwas dick aufgetragen war, so sind mir zwischendurch immer wieder unpassende, umgangssprachliche Begriffe aufgefallen, die den schönen Lesefluss für mich behindert haben und nicht zur Figur des Protagonisten gepasst haben.

Mein Lesevergnügen (der Autor hatte mich von der ersten Seite in Bann gezogen) endete zur Hälfte des Buches bei der Beschreibung einer extremen Gewaltszene. Nicht, dass ich solches aus anderen Krimis nicht gewohnt wäre, doch die Genauigkeit und die abstoßende Wortwahl, die verwendet wurde, war mir persönlich zu heftig, und die Bilder haben sich lange vor meinem inneren Auge gehalten. Für mich liegt die Kunst der Literatur oft in Andeutungen, im Ungesagten oder den Worten zwischen den Zeilen. Da ist weniger manchmal mehr.

Leider kann ich diesen Roman trotz der originellen Idee und der zahlreichen poetischen Sätzen nicht uneingeschränkt jedem empfehlen!



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Donnerstag, 1. November 2018
Jan Kjærstad „Das Norman-Areal“
„Nach diesen Stunden,[…], wurde mir klar, dass das Lesen einen immer weiter gestaltet, auch wenn man sich als fertig entwickelt betrachtet.“ (Seite 64)

John Richard Norman ist angesehener Lektor in einem norwegischen Verlag, immer auf der Suche nach neuen Romanen und guten Autoren. Er wäre sicher auch weiterhin sehr erfolgreich, überfiele ihn nicht plötzlich beim Lesen jeglicher zeitgenössischer Literatur eine bis dahin unbekannte Übelkeit. Nicht mehr imstande eingehende Manuskripte zu bearbeiten, nimmt John eine Auszeit und bezieht das Ferienhaus seines Freundes auf einer kleinen Schäreninsel. Mit Blick aufs Meer, im Schaukelstuhl sitzend, versucht er mit viel Ruhe und Entspannung seine Krise zu überwinden.

Beim Einkaufen im kleinen Lebensmittelladen trifft er zum ersten Mal Ingrid. Einige Treffen und Tage später sind die beiden ein Liebespaar und verbringen viele Stunden mit Spaziergängen über die Insel oder mit leidenschaftlichem Sex. In Ingrid scheint John die Partnerin gefunden zu haben, nach der er so lange gesucht hat. Seine Lesekrise rückt in den Hintergrund, bis ein Kollege aus dem Verlag ihm einige Manuskripte bringt und ihn bittet, das Beste davon für einen Literaturpreis herauszusuchen. Zunächst zögerlich nähert sich der Lektor den Schriftstücken.

Der Ich-Erzähler John Richard Norman springt in den Zeiten hin und her und spricht im Text eine Person an, von der wir Leser später im Buch erfahren. Er berichtet von seiner Kindheit, in der er die Liebe zu guten Büchern gefunden hat, von einem Jahre zuvor geschehenen Autounfall, bei dem er den Neurologen Dr Lumholtz kennengelernte (dieser sollte bei weiteren Untersuchungen eine Ungewöhnlichkeit auf Johns Schädel-CT entdecken), zieht immer wieder Vergleiche aus Büchern berühmter Literaten heran, lässt uns teilhaben an Textausschnitten für zukünftige Romane und hüpft letztendlich immer wieder hin zu seiner Zeit mit Ingrid und ihren exzessiven Liebesnächten.

Für Liebhaber schöner und anspruchsvoller Sprache ist dieser Roman ein absolutes Schmankerl, für Liebhaber der Literatur ein weiteres. Der Protagonist allerdings ist etwas schräg; mögen muss man ihn nicht unbedingt, aber man kann. Auch wenn ich zwischendurch immer wieder dachte “was will er nur mit seinem Geschwafel, wie tickt dieser John Richard Norman eigentlich oder wo führt das ganze denn nun hin?“, war dieser Roman für mich das reinste Lesevergnügen. Nicht oft ist mir bisher ein solches Buch begegnet, das meinen Emotionspegel in alle Richtungen hat weit ausschlagen lassen.

„Wie Sie wissen, gibt es insbesondere zwei Gelegenheiten, bei denen Worte nicht taugen: wenn man den Tod erklären soll, und wenn man die Liebe erklären soll […].“ (Seite 365)

Ein großer Roman, dem ein gewisser Zauber innewohnt, über die Liebe, die Literatur und die Leidenschaft!


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Dienstag, 16. Oktober 2018
Anne Tyler „Launen der Zeit“
Willa wächst mit ihrer kleinen Schwester Elaine in einer Kleinstadt in den USA auf. Da die Mutter Mann und Töchter immer wieder für kurze Zeit verlässt, lastet auf der elfjährigen Willa eine Menge Verantwortung. Sie lernt früh, sich um die kleine Schwester zu kümmern und dass sie sich auf ihre Mutter nicht verlassen kann. Jahre später heiratet sie, gegen den Willen der Eltern, ihre große Liebe Derek. Schon bald gründen sie ihre eigene kleine Familie und bekommen zwei Söhne. Bei einem Autounfall kommt Willas Mann ums Leben und wieder bleibt die mittlerweile 40-jährige Frau alleine mit der Verantwortung für sich und die Kinder. 20 Jahre später, Willa ist ein weiteres Mal verheiratet, die Söhne längst erwachsen und aus dem Haus, erhält sie einen Anruf. Ohne lange zu überlegen packt sie ihre Koffer, fliegt ans andere Ende des Landes, um einer Frau zu helfen, die sie eigentlich gar nicht kennt. Vielleicht wird sich hier ihr Leben verändern, sie vielleicht zu sich selbst finden.

Meine Beschreibung entspricht so ungefähr dem Klappentext des Buches. Ehrlich gesagt, kann ich wenig mehr dazu sagen, weil es schlicht und ergreifend an Inhalt in diesem Roman fehlt. Die Autorin erzählt die Geschichte, die kaum eine ist, nicht fortwährend als Lebensbeschreibung der Protagonistin Willa, vielmehr sind es Momentaufnahmen eines Frauenlebens. In großen zeitlichen Abständen, beginnend 1967, endend 2017, bleiben dem Leser große Teile verborgen. Das sorgte dafür, dass ich nicht richtig warm wurde, mit dem Inhalt nicht und auch den Figuren nicht. Wenn ich auch sonst so begeistert von Anne Tylers besonderer Art des Schreibens bin, so fehlte es mir hier an Tiefgang und vor allem an einer gewissen Logik. Die teilweise abstrusen Begebenheiten sowie das Verhalten und die Charaktere, waren für mich leider nicht nachvollziehbar. Außer, dass mich die Naivität Willas wahnsinnig aufgeregt hat (so manches Mal hätte ich sie schütteln mögen) und ich mich in der ersten Hälfte des Buches beim Lesen mehrheitlich gelangweilt habe, hat es nichts mit mir gemacht, mich kaum berührt.

Ich weiß wohl, das Anne Tyler die stillen und eher unscheinbaren Frauenbilder zeichnet, aber etwas lauter hätte es hier gerne sein dürfen. Ich bin enttäuscht!


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Montag, 17. September 2018
Bodo Kirchhoff „Dämmer und Aufruhr: Roman der frühen Jahre“
In einem kleinen Hotel in Italien mietet sich der Autor Bodo Kirchhoff für eine Zeit ein, im Gepäck seine Schreibutensilien und Fotos, um Erinnerungen an seine Kindheit und seine Familie niederzuschreiben. Hier scheint er seinen Eltern und den „frühen Jahren“ seines Lebens am nächsten zu sein. Denn hier haben seine Eltern ihre letzten glücklichen Tage vor ihrer Trennung verbracht. So richtet er sich auf dem kleinen Balkon ein und beginnt seine Lebensgeschichte zu schreiben.

Als Kind der Nachkriegsgeneration wächst er in den 1950 er Jahren in Hamburg auf. Die Eltern mehrheitlich mit sich selbst beschäftigt, die Mutter strebt eine Karriere als Schauspielerin an, der Vater versucht sein eigenes Geschäft aufzubauen, bleibt wenig Zeit für den Sohn und dessen Belange. Der will sich nicht recht einfinden in das Leben, in die Gesellschaft, in die Schule und sucht immer wieder die Nähe zur Mutter. Immer öfter gibt die ihn jedoch nach der Schule in die Obhut der Großmutter. Der Junge, offensichtlich emotional von den Eltern vernachlässigt, findet dann aber Halt bei der fürsorglichen Oma, die schnell zur engsten Vertrauensperson wird. Im Alter von elf Jahren schickt man ihn in ein katholisches Internat, in der Hoffnung, ihm hier den Boden für seine Zukunft ebnen zu können.

Und wieder sucht der mittlerweile Heranwachsende nach Nähe und Halt und orientiert sich an Älteren und Stärkeren. Dann nimmt sich der Kantor, Sport- und Musiklehrer, sich des Jungen an; beginnt ihn zu fördern und verbringt ungewöhnlich viel Zeit mit ihm. Der Schüler genießt die Aufmerksamkeit, doch schon bald kommt es zu sexuellen Übergriffen, die von dem jungen Menschen kaum verstanden werden können und die mit Liebe und Zuneigung verwechselt werden. Es beginnt eine Zeit der jahrelangen emotionalen Abhängigkeit.

Und obwohl das sicherlich das einschneide Erlebnis im Leben des Autors bleibt, rückt er es nicht in den Mittelpunkt seines autobiografischen Romans. Er erzählt frei und ungeschönt von den schlechten aber auch den guten Zeiten, manchmal unsicher, ob sich alles genauso zugetragen hat. Erinnert sich anhand alter Fotos, die er so genau und einfühlsam beschreibt, dass der Leser glaubt, eben dieses Schwarzweiß Foto mit welliger weißer Umrandung in Händen zu halten. Bis zum Tod der Mutter lässt uns Bodo Kirchhoff an seinem Leben teilhaben, an Kindheit, Jugend und die wilde Zeit der 1960 er Jahre, in denen persönlicher und politischer Aufruhr an der Tagesordnung waren. Er lässt uns ganz nah heran und bleibt doch sprachlich oft auf Abstand. So verwendet er zum Beispiel selten das Wort “ich“, sondern spricht über sich selbst in der dritten Person. Seine Sätze sind trotz schmerzlichen Inhalts poetisch und teilweise zu schön, um sie nur ein einziges Mal zu lesen.

Der Autor klagt nicht an, übt keine Rache oder rechnet gar mit Tätern ab; auch an Mitleid scheint ihm nicht gelegen. Am Anfang dachte ich noch zu schreiben “der Autor gibt allen Opfern eine Stimme“, das stimmt jedoch nicht, er bleibt ganz bei sich, ist nur seine eigene Stimme, macht aber auch dadurch aufmerksam auf schreckliche Umstände. Zeigt, wie er selbst mit Schmerz, Sehnsucht und eigenen Irrwegen zu sich selbst gefunden hat. Das Zu-sich-kommen im Schreiben sozusagen, am Ende sogar ein Mit-sich-im-Reinen-sein.

Für mich ist Bodo Kirchhoff ein ganz großer Schriftsteller, der mich mit seiner Art des Erzählens, seinem Tiefgang immer bis ins Mark trifft.

Mehr vom Autor hier im Blog
Widerfahrnis
Verlangen und Melancholie
Die Liebe in groben Zügen


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Mittwoch, 8. August 2018
Nickolas Butler „Die Herzen der Männer“
Wenn mich ein Buch so ganz und gar berührt, mich vor Traurigkeit die ein oder andere Träne vergießen lässt, mich fluchen und aufschreien lässt vor Wut und mich kopfschüttelnd zurücksinken lässt wegen des puren Unverständnisses einer Figur, dann ist das anstrengend, zehrend, aber für mich ein gutes Buch.

Das alles vermochte Nickolas Butler mit dieser so anrührenden und tragischen Geschichte. In großen zeitlichen Schritten und über mehrere Generationen hinweg, bringt uns der Autor die Gefühlswelt und das Verhalten der Männer im Allgemeinen und seinen nicht immer sympathischen Figuren im Speziellen nahe.

Im Mittelpunkt aller steht Nelson. Zu Beginn der Erzählung, 1962, ist Nelson gerade mal 13 Jahre alt. Er wohnt mit seinen Eltern in einer Kleinstadt in Wisconsin, ist ein sensibler Junge, zurückhaltend, ruhig und hat das Herz am rechten Fleck. Er ist aber auch ehrgeizig, beflissen und mitunter pedantisch, was ihm den Ruf eines Strebers einbringt. Freunde hat Nelson nicht. Sein Vater, ehemaliger Soldat, sieht in seinem Sohn einen verweichlichten und schwachen Jungen, dabei wünscht sich Nelson nichts mehr als dessen Anerkennung. Auch diesen Sommer verbringt Nelson eine Woche im Pfadfindercamp. Sein Vater begleitete ihn zwar, geht aber im Lager seine eigenen Wege, sucht Entspannung von Ehestreit und stressigem Familienleben.

Nelson ist auch hier mehr oder weniger alleine, doch als Pfadfinder hat er Erfolg, erarbeitet sich die besten Abzeichen, die es zu erringen gibt und hat die ehrenvolle Aufgabe den Morgenappell auf seiner Trompete zu spielen. Bald glaubt er in dem älteren Jonathan einen Vertrauten gefunden zu haben; auch der alte Pfadfinderführer Wilbur, wegen seines Rufes als „Kriegsheld“ beliebt und geachtet, nimmt sich dem Jungen an und wird für Nelson zum Vorbild. Und doch erlebt Nelson in diesem Sommer seinen größten persönlichen Albtraum.

Nickolas Butler erzählt von schwachen Männern, von starken, von gewalttätigen und rohen, auch Frauen verachtenden. Er erzählt aber auch von den gefühlvollen Männern, den liebenden, fürsorglichen und vor allem den „herzensguten“. Mit seiner klangvollen poetischen Sprache hat mich der Autor mitgerissen. Dieser Roman ist nicht unbedingt als Hommage an die Männerwelt zu verstehen, zeichnet er doch auch starke unabhängige Frauen darin. Vielmehr zeigt er mit welcher Unausweichlichkeit Jungen zum „harten Kerl“ geformt werden, mit wieviel Einflüssen und Erwartungen sie konfrontiert sind.

Ein wunderbares Buch über das Menschsein!


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Freitag, 13. Juli 2018
Elizabeth Hartley Winthrop „Mercy Seat“
Wie eine Spirale, in deren Mitte die Hinrichtung eines jungen schwarzen Mannes steht, steuern die Geschehnisse in diesem Roman auf das unweigerliche Ende zu. Die Handlung orientiert sich an einer wahren Begebenheit, die sich in Louisiana zu Beginn der 1940 er Jahre so oder so ähnlich zugetragen haben mag.

Der wegen Vergewaltigung einer weißen Frau zum Tode verurteilte Will möchte seine letzten 24 Stunden auf der Erde möglichst schnell hinter sich bringen. Er hat das Kämpfen längst aufgegeben, ist lethargisch. Die einzige Möglichkeit, die Zeit schneller verrinnen zu lassen, scheint ihm, die Augen zu schließen und an schöne Stunden mit Grace oder an seine Familie zu denken. Die Menschen in der Kleinstadt St. Martinsville sind unterdessen in geschäftigem Treiben. Auch sie bereiten sich mehr oder weniger auf „das große Ereignis“ vor.

In dieser perspektivischen Erzählung hangelt sich der Leser an der Spirale entlang und begegnet dabei den unterschiedlichsten Personen. Während sich zwei Männer in einem Truck und der ungewöhnlichen Fracht, dem „Mercy Seat“, dem elektrischen Stuhl mitsamt Generator dem Gerichtsgebäude der Stadt nähern, transportiert Frank eine Granitplatte mit dem Maultierwagen auf den Friedhof zu. Polly, der Staatsanwalt, hat das Urteil nicht aus Überzeugung getroffen, steht unter Druck, wurde er doch von einer Gruppe wütender weißer Männer dazu genötigt. Seine Frau Nell hat Mitleid mit dem Verurteilten und bereitet für den Jungen die Henkersmahlzeit. Der katholische Pfarrer des Ortes wird Will in seinen letzten Stunden beistehen, droht aber an seinem Zweifel an Gott zu scheitern. Und während dies alles passiert, freundet sich Ora, die Frau des Tankstellenbesitzers mit einem Kind an, einem schwarzen Baumwollpflücker, der sie bald um einen großen Gefallen bitten wird.

Die Gegenwärtigkeit der Geschehnisse macht uns die Autorin sprachlich deutlich mit der Wahl des Präsens. In atmosphärischen Bildern und mit ihrer poetischen Ausdrucksweise, die dem Schrecklichen des Inhaltes in krassem Widerspruch gegenübersteht, katapultiert sie uns mitten hinein in eine Gruppe aufgebrachter Bürger. Sie lässt uns die verschiedenen Meinungen, die in diesem Buch aufeinandertreffen, wie Hass, Vorurteile und das Verständnis vom Töten, aber auch Mitleid und allmähliches Begreifen, emotional verstehen. Seite um Seite, Stunde um Stunde, zieht sich die Spirale enger um den Zeitpunkt der Hinrichtung, der Kloß im Hals des Lesers wächst.

„Er hatte seine Augen offen gehalten und einen Riss in der Wandfarbe fixiert, als ob er durch das Anstarren dieses Punktes irgendwie Halt fände, die Kontrolle behielte, das einzige Bollwerk gegen die tiefe Trauer und die Reue und die Sehnsucht, die ihn so sehr auszehrten, dass sie ihn beinahe zusammenbrechen ließen.“ (Seite 85)

Die Autorin hat den Leser fest im grausigen Griff, entlässt ihn zu keiner Zeit, nicht eine Minute in eine Wohlfühlzone, hält die dichte Atmosphäre bis zum Ende.

Das war in dieser ersten Hälfte des Jahres bereits der zweite Roman um das Thema Todesstrafe. Die Abscheulichkeit dieser Tat ist kaum in Worte zu fassen, erschüttert und lässt traurig und wütend zurück. Gefühlsmäßig an der Grenze des Ertragbaren, möchte ich doch im Nachhinein keines dieser Bücher missen. Lange noch wird mich dieser Roman beschäftigen!


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Montag, 25. Juni 2018
Sabrina Janesch „Die goldene Stadt“
Warum nicht einmal das bequeme Zuhause verlassen, um sich auf unbetretene Pfade zu begeben, und sei es nur mit dem sprichwörtlichen Finger auf der Landkarte? Oder eben auf literarischem Wege. Auf alle Fälle aber hat man dann was zu erzählen!

Als im Jahre 1863 ein großes Schiff den Hafen von Lima erreicht, geht ein junger Mann von Bord: August Rudolph Berns. Noch nicht volljährig, hat er die kleine Heimatstadt in Deutschland und sein gesichertes Zuhause verlassen, um sich in Peru auf die Suche nach der goldenen Stadt “El Dorado“ zu machen. Als Sohn einer gutbürgerlichen Familie ist August bereits im Kindesalter von den fremden Kulturen der Südamerikaner, speziell der Inka, fasziniert. Schon damals versucht er sich als Goldwäscher am Rhein. Nach dem frühen Tod des Vaters gerät die Welt des Jungen leicht ins Wanken. An seinem Traum von der goldenen Stadt hält er dennoch fest und wird, anstatt in das Familienunternehmen einzusteigen, seiner „kleinen“ Welt entfliehen. Er packt, an hohem Reisefieber leidend, seinen Rucksack und macht sich auf den Weg zu seinem großen Abenteuer.

Auf dem fremden Kontinent angekommen und noch bevor er sich auf die Suche nach den sagenumwobenen Goldschätzen der Inka begeben kann, kämpft er Seite an Seite mit peruanischen Soldaten im Krieg gegen Spanien. In dieser schweren Zeit hält ihn einzig der Gedanke an seinen großen Traum aufrecht. Später verdingt er sich unter anderem bei der Eisenbahngesellschaft als Landvermesser. In diesen ersten Jahren sieht sich der junge Berns, der sich in seiner neuen Wahlheimat Augusto nennt, mit vielen Rückschlägen konfrontiert. Wie durch Zufall trifft er auf den Amerikaner und Geologen Henry Singer. Von da an geht es bergauf, im wahrsten Sinne des Wortes.

Sabrina Janesch entfacht mit ihrem Roman den Entdeckergeist eines jeden Lesers. Sie beschreibt uns August Rudolph Berns als sympathischen, wenn auch etwas verschlagenen, jungen Mann und lässt uns dessen Kraft und Euphorie hautnah spüren. Mit ihrer bildhaften, lebendigen Sprache lässt sie uns das Abenteuer mit allen Sinnen erleben und den Entdecker Berns auf seinem Lebensweg begleiten. Faszinierend beschreibt sie das stetige Hinfallen und Wiederaufstehen des vor Enthusiasmus strotzenden Abenteurers, der nie den Mut zu verlieren scheint und nach jedem Rückschlag gestärkter und mit noch mehr Elan weitermacht. Fast schon körperlich erleben wir, wie er über eigene Grenzen hinweg geht, Widrigkeiten wie Klima, Krankheit und die Unwägbarkeiten des Dschungels überwindet, um das Unmögliche zu schaffen.

Die Autorin stützt sich auf die neuesten Erkenntnisse eines amerikanischen Historikers, der Beweise dafür fand, dass der deutsche Ingenieur August Rudolph Berns schon vor der offiziellen Erforschung der verlorenen Stadt der Inka, Machu Picchu bereits Jahrzehnte zuvor wiederentdeckt hatte.

Mit dieser spannenden Geschichte, den gut recherchierten Fakten, aber auch mit ihrer humorvollen Art des Erzählens, hat mich Sabrina Janesch in eine faszinierende Welt mitgenommen. Die Karte Perus beifuß und die anschließende Internetrecherche mit beeindruckenden Bildern hat diese „Reise“ für mich zum echten Erlebnis werden lassen.

Ein Muss für alle Abenteurer!



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