Montag, 12. Juli 2021
Bernhard Jaumann "Caravaggios Schatten"
"Öffne deine Augen! Sieh endlich genau hin!" Mit diesen fordernden, an Rupert gerichteten Worten, schnellt Andreas nach vorne und zerstört ein wertvolles Gemälde mit einem Messer. Das Bild: "Der Ungläubige Thomas" vom italienischen Barockmaler Michelangelo Merisi da Caravaggio.
Die ehemaligen Schulfreunde hatten sich nach jahrelangem Sich-aus-den-Augen-Verlieren in Berlin getroffen und im Potsdamer Schloss Sanssouci eine Ausstellung besucht.

Die Polizei ist schnell zur Stelle, und während man Andreas Posselt direkt in Untersuchungshaft bringt, nimmt man Rupert von Schleewitz wegen des Verdachts der Mitwisserschaft mit ins Präsidium. Nach ausführlicher Befragung ist er jedoch wegen Mangels an Beweisen wieder auf freiem Fuß.

Erst jetzt beginnt er sich die Ereignisse der letzten Stunden durch den Kopf gehen zu lassen. "Öffne deine Augen! Sieh endlich genau hin!? Diese Sätze gehen ihm immer wieder durch den Kopf. Doch dann schüttelt er alles ab und fährt zurück nach München. In der Kunstdetektei von Schleewitz wartet Arbeit.

Zurück im Büro stürzt sich Rupert unvermittelt ins Alltagsgeschäft, sehr zur Verwunderung seiner beiden Mitarbeiter Max und Klara. Ein dringender Regierungsauftrag reißt die drei Detektive aus ihrer Routine, nicht nur beruflich. Der beschädigte Caravaggio ist verschwunden!

Auch bei Bernhard Jaumanns zweitem Band um die Kunstdetektei von Schleewitz bereitete es mir wieder eine unbändige Freude, mich schon zu Beginn der Lektüre mit dem Gemälde zu beschäftigen. Während des Lesens war es immer wieder von Vorteil einen genauen Blick darauf zu werfen, sonst wären mir Parallelen zur Geschichte vermutlich nicht aufgefallen. Der Autor versteht es auf geschickte Weise die Handlung im Gemälde sich im Verhalten seiner Romanfiguren spiegeln zu lassen. Es entsteht eine Verknüpfung, die auch uns Leser*innen nicht außen vor lässt. Auch wir sind angehalten genau hinzuschauen.

Ruperts Blick auf das Gemälde:
"Ein Halbbogen bestimmte die obere Hälfte der Komposition. Er verlief von Jesus? Ellenbogen über die Stirn des hinteren Jüngers zum äußeren Arm des rechten Apostels. Die beiden Enden des Bogens hatte Caravaggio mit einer etwas wackeligen Geraden verbunden, die vor allem durch die drei in einer Waagerechten befindlichen Hände betont wurde. [?] Keiner der abgebildeten Männer hielt den Kopf aufrecht, alle vier beugten ihn nach vorn, nach unten." (Seite 28)


Eine kleine Durststrecke galt es für mich, wegen einer in die Länge gezogenen Szene zu überwinden. Danach hatte mich der Autor wieder gepackt und zog die Spannung noch einmal richtig an. Dieser Kritikpunkt soll aber auf keinen Fall meine Leseempfehlung schmälern. Und wie schon beim letzten Mal erwähnt kann ein kleines Faible für die Malerei hier nicht schaden.

Ebenfalls hier im Blog:
Der Turm der blauen Pferde

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Montag, 17. Mai 2021
Viveca Sten "Mörderisches Ufer"
Übersetzung: Dagmar Lendt

Es sind nur noch ein paar Tage bis Mittsommer, ein paar Tage bis die Staatsanwältin Nora Linde endlich ihren Piloten Jonas heiratet. Doch vorher steht ihr noch ein schwieriges Gerichtsverfahren wegen Geldhinterziehung und Betrug bevor. Ein Fall, der ihr einen Karrieresprung ermöglichen könnte. Sie steht enorm unter Druck, erhält Drohmails den Prozess betreffend und ausgerechnet jetzt muss ihr Zukünftiger noch einen dringenden Flug absolvieren.

In der Ehe ihres besten Freundes Thomas Andreasson kriselt es derweil. Seine Frau Pernilla geht ganz auf in ihrem neuen Job, findet kaum noch Zeit für ihn und die gemeinsame Tochter. Das ist enorm frustrierend. Er selbst ist nach einem kurzen Ausflug in eine andere Branche zum Polizeidienst in Nacka zurückgekehrt.

Doch noch müssen beide, Thomas und Nora, ihre privaten Befindlichkeiten hintanstellen. Denn plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. In einem Segelcamp verschwindet ein elfjähriger Junge auf unerklärliche Weise. Die Polizei Nacka steht Kopf, denn es ist nicht das erste vermisste Kind in dieser Saison. Während die ersten Eltern aus Sorge ihre Sprösslinge vom Camp wieder abholen, gerät ein junger Gruppenleiter massiv unter inneren Druck. Auch für Nora sieht es nicht rosig aus, ändert doch ihr wichtigster Belastungszeuge seine Meinung und zieht seine Aussage zurück.

In diesem Krimi legt Viveca Sten ein unglaubliches Tempo vor. Mit knapp 150 Kapiteln auf 450 Seiten liest sich die Story wie "geschnitten Brot". Rasant erzählt, bleibt kaum Zeit zum Luftholen, die Neugierde wird immer größer. Verschiedene Handlungsstränge entwickeln sich hier parallel zueinander bis zum unvermeidlichen Schnittpunkt. Die Autorin spart nicht an Wendungen und Unvorhersehbarkeiten. Hier braucht es kein Blutvergießen, um Gänsehaut hervorzurufen; psychologisch ausgefeilt und an Spannung kaum zu toppen!


Weitere Rezensionen dieser Reihe:
Mörderische Schärennächte
Beim ersten Schärenlicht
Tod in stiller Nacht
Tödliche Nachbarschaft

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Sonntag, 28. März 2021
Pietro Bellini "Signora Commissaria und die dunklen Geister"
Florenz, Greve in Chianti, Pisa, Lucca, Castagneto Carducci?Orte der Toskana, die schöne Erinnerungen in mir wecken.

Im Debütroman des Autors Pietro Bellini dienen sie als Kulisse für ein Verbrechen. Auf der berühmten Brücke in Florenz, der Ponte Vecchio, wird spät abends ein lebloser Mann gefunden - und gleich wieder verloren. Bis die Einsatzkräfte endlich vor Ort sind, finden sie den diensthabenden Streifenpolizisten, mit einer Kopfwunde liegend, auf dem Pflaster - von der Leiche keine Spur.

Das Innenministerium in Rom schickt die Sonderermittlerin Commissaria Giulia Ferrari, um sich des ungewöhnlichen Falles anzunehmen. Giulia kommt mit gemischten Gefühlen und der leisen Hoffnung der Toskana so bald als möglich wieder den Rücken kehren zu können. Als unabhängigen Ermittler empfiehlt man ihr den aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Luigi Battista, mittlerweile Besitzer einer kleinen Bar in Santa Croce. In der Questura (Polizeipräsidium) in Firenze angekommen tut sich außerdem der Sehbehinderte Sergente Enzo Aleardi mit seinen außerordentlichen Computerkenntnissen und seinem Gespür hervor. In dieser ungewöhnlichen Konstellation beginnen die Ermittlungen und führen bald hinter die Kulissen der großen Juwelierläden der Ponte Vecchio und der besten Goldschmiede des Landes.

Mitsamt Luigis Golden Retriever Tulipan entwickelt sich ein sympathisches Team für diesen lockerleichten Auftakt einer Krimireihe, der mich mit der schönen Umgebung, den liebenswerten Figuren und einer schlüssigen Story überzeugt hat. Spannend bis zum Ende macht er Lust auf den nächsten Band. Ausflüge in die italienische Sprache sowie eine Handvoll typisch toskanischer Rezepte (von der Großmutter des Autors) gibt's obendrein. Damit ist die Atmosphäre perfekt.

Dass ein solcher Roman nicht gänzlich ohne Klischees auskommt ist klar, aber der Autor blickt auch hinter die Fassade. Spricht Missstände an wie z.B. den Verfall der Gebäude, die Armut der Bevölkerung, Machenschaften in der Politik und die laxe Bürokratie im Land.

Ein wunderschöner Urlaub nicht nur in Krisenzeiten!

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Samstag, 13. März 2021
Jo Nesbø "Ihr Königreich"
Übersetzung Günther Frauenlob

Roy Opgard bewohnt den Berghof seiner verstorbenen Eltern nahe des im Tal gelegenen Ortes Os. In dem kleinen norwegischen Dorf betreibt er eine Tankstelle mit Autowerkstatt. Außer zu den Angestellten pflegt er kaum Kontakt zu den Dorfbewohnern, nimmt nur selten an gesellschaftlichen Ereignissen teil. Er lebt ein ruhiges Leben bis eines Tages ein Cadillac am Hof vorfährt.

Roys jüngerer Bruder Carl ist zurück. Nach vielen Jahren in den Staaten ist er endlich wieder zu Hause. Nicht nur bringt er seine Ehefrau Shannon mit, sondern hat auch große Ideen im Gepäck. Vorhaben, die für die Familie und die Menschen im Dorf eine große Chance sein dürften.

Die "Heimkehr des verlorenen Sohnes" macht schnell die Runde, ist aber nicht für jeden Anlass zur Euphorie. Denn sie bringt letztendlich auch eine Menge an Erinnerungen mit sich. Erinnerung an Ereignisse, die so manch einer vergessen glaubte. Und so kommt es, dass der Polizeichef sich noch einmal eines alten Falles annimmt, der nie geklärt werden konnte. Als Carl jedoch der Bürgerversammlung sein Projekt vorstellt und jedem Unterstützer seines Plans Reichtum und dem Ort Ansehen verspricht, jubeln ihm alle zu. Vergangenes rückt zunächst in den Hintergrund. So nehmen die Dinge ihren Lauf.

Es gibt Tote, soviel sei verraten, klar, sprechen wir doch hier von einem Werk Jo Nesbøs. Er legt aber diesmal nicht so offensichtlich den Fokus darauf, verzichtet auf das übliche Cop-sucht-Mörder Muster, sondern konzentriert sich auf die Psychologie dubioser Figuren. Allen voran der Brüder Roy und Carl Opgard. Beide, wie andere auch, bleiben lange undurchsichtig und nicht einschätzbar. Die Charaktere gewinnen jedoch durch Rückblenden in die Vergangenheit nach und nach etwas an Kontur.

Was sind die Menschen im Einzelnen bereit zu tun für die Gemeinschaft, das Kollektiv? Wie weit schweißt die gemeinsame Kindheit die Familie zusammen und wo sind die Grenzen des Zusammenhalts? Das sind für mich die vorherrschenden Fragen dieses Romans.

"Ihr Königreich" ist allemal eine spannende Geschichte, auf einige Längen hätte ich gerne verzichtet. Ich habe an vielen Stellen die für den Autor sonst so typischen logischen Zusammenhänge vermisst; konnte mir Manches noch so oft durchdenken, aber Einiges blieb unschlüssig. Die Handlungen der Figuren blieben oft unverständlich und nicht nachvollziehbar.


Ebenfalls hier im Blog:

Messer
Durst
Koma


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Donnerstag, 18. Februar 2021
Jan Seghers "Der Solist"
Der Frankfurter Kriminalkommissar Neuhaus wird in die Hauptstadt berufen. Die Sondereinheit für terroristische Abwehr (SETA) arbeitet an einem diffizilen Fall. Ein bekanntes Mitglied der Berliner Jüdischen Gemeinde wurde tot in einem Park gefunden. Der Schuss in den Hinterkopf lässt eine Art Hinrichtung vermuten. Das bestätigt sich, als kurz darauf ein Bekennerschreiben des IS in der Nähe der Leiche gefunden wird. Darin beruft man sich auf einen gewissen Anis Amri.

In Berlin im Sonderdezernat angekommen, beäugt man Neuhaus zunächst kritisch. Auch der Chef der Einheit macht keinen Hehl aus seiner Abneigung dem hessischen Neuzugang gegenüber. Ist dieser doch niemandem direkt unterstellt, so die Order. Ein Solist also. Nach kurzer Einweisung in den aktuellen Mordfall stellt man Neuhaus die eigenwillige Suna-Marie, von allen nur Grabowski genannt, zur Seite. Auch sie gilt, wie Neuhaus auch, nicht unbedingt als Teamplayer.

Er ist introvertiert und nicht leicht zu durchschauen, sie ist draufgängerisch und geradeheraus; auf den ersten Blick unvereinbare Eigenschaften. Die beiden tun sich schwer in den ersten Tagen, merken dann aber, dass auch zwei Einzelgänger ein recht passables Team abgeben. In Neukölln aufgewachsen kennt Grabowski nicht nur ihr Berlin wie die eigene Westentasche, sondern teilt auch ihr umfangreiches Wissen der terroristischen Anschläge der letzten Jahre mit Neuhaus. Ebenso weiß sie über jeden der Kollegen etwas zu berichten.

Manches ist anders im neuen Krimi von Jan Seghers, die Figuren, das Setting, und die Auswahl des Themas. Doch eines bleibt gleich: der Autor nimmt eine wahre Begebenheit als Basis für seine Geschichte. In diesem Fall der Anschlag auf die Besucher des Berliner Weihnachtsmarktes 2016. Der Name des Attentäters : Anis Amri

Süddeutsche Zeitung online Dez 2016:

Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Breitscheidplatz/ Ein LKW wurde absichtlich in die Menschenmenge auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gesteuert. Mindestens zwölf Menschen wurden getötet und 48 weitere verletzt. Die Polizei geht von einem Anschlag aus.


Die Geschehnisse, die in "Der Solist" beschrieben werden sind sozusagen die Folge dieses schrecklichen Abends. Jan Seghers bringt uns Leser*innen souverän und mit einfacher schnörkelloser Sprache durch diese Story. Er legt Seite für Seite an Spannung und Geschwindigkeit zu, dass es mir schwerfiel mich loszureißen. Lädt wegen der Nähe zur Realität, wie in vorherigen Büchern, zu eigener Recherche ein.

Ich will mehr davon! Gerne hätten es für meinen Geschmack 100 Seiten mehr sein können.


Ebenfalls hier im Blog:

Menschenfischer
Die Sterntaler Verschwörung
Der Autor aus meiner Sicht


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Mittwoch, 3. Februar 2021
Håkan Nesser „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“
Übersetzung Paul Berf

2013 - Es ist der ganz normale Alltag bei der Kriminalpolizei Kymlinge, als ein Mann bei den Inspektoren Barbarotti und Backmann auftaucht und ihnen erzählt, er werde bedroht. Einige Briefe habe er erhalten und einen Anruf. Ein gewisser „Nemesis“ wünsche seinen Tod. Er habe dafür durchaus Verständnis. Ein Busunglück habe sich fünf Jahre zuvor ereignet, bei dem mehrere Menschen ihr Leben gelassen hätten. Er selbst sei der Busfahrer gewesen. Noch bevor Polizeischutz gewährleistet wird, geschieht etwas Unvorhergesehenes.

2018 - In diesem Herbst nehmen Gunnar Barbarotti und Eva Backmann, längst auch offiziell ein Paar, eine berufliche Auszeit. Eva hatte im Dienst von ihrer Waffe Gebrauch machen müssen und dabei einen Menschen getötet. Nichts, was man einfach so wegsteckt. Da kommt die Idee ihres Partners gerade recht, für 2 Monate ein Ferienhaus auf Gotland zu beziehen. Die Insel ist zu dieser Jahreszeit wenig belebt und so verspricht der Aufenthalt eine Menge Entspannung. Bei einem ihrer abendlichen Spaziergänge dort glaubt Barbarotti in einem Fahrradfahrer einen ihm wohlbekannten Mann zu erkennen. Von da an lässt ihn dieser eine Gedanke nicht mehr los: wer war dieser kleine bärtige Mann mit dem roten Fahrrad? Um dieser Sache nachzugehen, fordert er Akten eines alten Falles an. Es dauert nicht lange bis sich beide Kriminalisten kopfüber in die Ermittlungsarbeit stürzen.

Zwischen diesen beiden Zeitebenen springt der Autor hin und her und erzeugt damit eine immense Spannung. Obwohl wir Leser*innen einen Wissensvorsprung genießen, wir zwischendurch in privaten Aufzeichnungen lesen können, bringt uns das scheinbar dem komplizierten Fall kaum ein Stück näher. Das ist eine Stärke Håkan Nessers Schreiben, uns immer wieder im Unklaren zu lassen. Eine der Strategien, die er dafür benutzt, scheint er einer seiner Figuren geradewegs in den Mund zu legen:

„Wenn man schreibt, darf man den Leuten nicht alles unter die Nase reiben, erklärte Anders. Man soll sie in dem Glauben wiegen, dass sie intelligent sind und selbst die Schlussfolgerungen ziehen,…“ (Seite 404)

Für mich persönlich hat hier wieder alles gestimmt. Eine äußerst geschickt konstruierte Geschichte und Spannung bis zum Schluss. Die Figuren sind authentisch und sympathisch, zeigen sich auch mal nachdenklich (fast schon philosophisch) und verletzlich. Vor allem aber kommen sie äußerst menschlich daher. Besonderen Lesespaß bereiten außerdem das liebevoll, spritzige Geplänkel zwischen den beiden Kommissaren, das auch stets ein Quäntchen Ironie erkennen lässt.

Ein Krimi, der gänzlich ohne die gewohnten Thrillereffekte auskommt und durch psychologische Raffinesse besticht.


Weiteres vom Autor hier im Blog:
Der Fall Kallmann
Die Lebenden und Toten von Winsford Hörbuch
Himmel über London
Am Abend des Mordes


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Sonntag, 21. Juni 2020
Jo Nesbø „Messer“ (Ein Harry-Hole-Krimi 12)
Übersetzung Günther Frauenlob

Ein Mann, eingesperrt in einem Auto, treibt im Fluss. Der Mann scheint nach Luft zu schnappen, um Atem zu ringen, die Augen weit geöffnet schlägt er gegen die Seitenscheibe. Bevor der Wagen gänzlich versinkt, registriert der Beobachter die grellblauen Augen des Ertrinkenden und die panische Angst in ihnen. Wir alle ahnen es längst: es scheint sich um Harry Hole zu handeln!

Mit dieser fulminanten Szene katapultiert uns Jo Nesbø geradewegs inmitten seines aktuellen Kriminalromans, rasant und augenblicklich fesselnd. Von diesem schockierenden Punkt ausgehend führt er uns zum Anfang der Geschichte: Harry Hole, ehemaliger Ermittler der Osloer Polizei ist vom Dienst suspendiert, von seiner Frau getrennt und schlittert wieder einmal von einem Saufgelage zum nächsten. Nach einer Kneipenschlägerei, an die er sich selbst nur vage erinnern kann, wacht er am Morgen in seiner Wohnung auf; die Knöchel seiner Hand wund, Blutflecke auf der Jeans und einem mächtigen Kater. Noch bevor die Ernüchterung eintritt erhält er die erschütternde Nachricht, dass seine Frau Rakel Fauke tot in ihrem Haus gefunden wurde. Eine Videonachricht, die bei der Polizei eintrifft und Details der Tat zeigt, trägt ganz klar die Handschrift Svein Finnes. Seit Jahren schon wird nach dem stadtbekannten Vergewaltiger gefahndet.

Nach Tagen der Ausnüchterung macht sich Harry Hole auf eigene Faust an die Ermittlung nach dem Mörder. Bald schon scheint er sich zu verstricken, denn nicht nur Finne steht auf der Liste der Verdächtigen. Hilfe erfährt er von seiner ehemaligen Kollegin und Geliebten Kaya Solness, die eben aus dem Kriegsgebiet Afghanistans zurückgekehrt ist.

Ganz nach Agatha-Christie-Manier präsentiert uns der Autor einen potentiellen Täter nach dem anderen. Jeden einzelnen von ihnen beleuchtet er genauestens, erzählt ihre persönliche Geschichte und lässt uns Leser*innen an deren Vergangenheit teilhaben. Mit schon fast philosophischem Gedankengut geschmückt, zieht sich die Story in die Länge und droht vom eigentlichen Fall abzuweichen. Doch redeten wir nicht von Jo Nesbø, fügte sich nicht nahtlos ein Detail ins andere.

Wir erleben in diesem, dem zwölften Fall, einen anderen Harry Hole, einen geläuterten, nachdenklichen und verletzlichen Typen. Traumatisiert von Verlust und Trauer. Dennoch überschreitet der Antiheld Hole wieder einmal die Grenze zum Illegalen und wirft damit Fragen zu moralischem Verhalten auf. Mehr als üblich konfrontiert uns Jo Nesbø mit gesellschaftspolitischen Themen.

Am Ende überrascht der Krimi mit höchster Spannung, die dem Anfang des Buches in nichts nachsteht.

Ebenfalls hier im Blog:
Durst
Koma

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Donnerstag, 4. Juni 2020
Jan Costin Wagner „Sommer bei Nacht“
Jannis ist weg! Eben war der 8jährige Junge noch da. Sie waren beim Flohmarkt, Jannis, seine Mutter und Sarah, die große Schwester. Als sich seine Mutter umdreht, ist Jannis verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Familie Meininger passiert wohl hier das Schlimmste, was man sich als Eltern vorstellen kann.

„Die Zeit hat sich verdichtet. Hat sich reduziert. Im Bruchteil einer Sekunde. Ein weiter Raum ist geschrumpft. Auf ein kleinstmögliches Maß. Auf ein buntes Gemälde, eine Zeichnung, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint.“ (281)

Die Wiesbadener Kriminalpolizei schickt Ben Neven und Christian Sandner nach Biebrich, um sich des Vermisstenfalles anzunehmen. Beide sind äußerst zurückhaltende und stille Charaktere, in Ihrer Arbeit gelten sie als gründlich und gewissenhaft. Lediglich der/die Leser/in erfährt bald, was in beiden Köpfen vor sich geht. Die polizeilichen Befragungen finden direkt am Ort des Geschehens statt. Ein Mitschüler will gesehen haben, wie Jannis, einen riesigen Teddybären im Arm, mit einem Mann gesprochen hat. Alles geht nur sehr schleppend voran, bis in den nächsten Tagen eine Überwachungskamera interessante Bilder für die Polizei liefert. Mit steigender Medienpräsenz nehmen die Ermittlungen an Fahrt auf.

Diese steigende Geschwindigkeit und Spannung ist beim Lesen geradezu greifbar. Es ist zu spüren, dass etwas auf einen Höhepunkt hinausläuft. Das war der Moment, an dem ich das Buch immer wieder weglegen musste, weil das, was vielleicht kommen würde, unerträglich zu sein schien.

Jan Costin Wagner versteht es mit wenigen Worten und ohne es direkt auszusprechen das Grausame und Schreckliche in unseren Köpfen entstehen zu lassen. Das ist seine Kunst. Entgegen dem eigentlichen Krimi-Genre versteht er es, den Fokus nicht unbedingt nur auf den Fall zu legen, sondern auch auf das Innere seiner Figuren, die, einer wie der andere, mit ihren eigenen persönlichen Schicksalen zu kämpfen haben. Der Autor lässt uns all diese Gedanken und Gefühle der Protagonisten miterleben.

Es sind die schmerzlichen Themen Pädophilie und Kindesmissbrauch, deren sich Jan Costin Wagner in diesem Krimi annimmt. Zu sehr an der Realität, als dass man das Lesen als Entspannung betrachten könnte. Ein durch und durch düsteres Buch, dennoch unbedingt lesen!

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Auch hier im Blog rezensiert:

Tage des letzten Schnees
Sakari lernt, durch Wände zu gehen

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Montag, 22. Juli 2019
Bernhard Jaumann „Der Turm der blauen Pferde“
Dieses Buch ist der Auftakt einer neuen, vielversprechenden Krimireihe um die Münchner Kunstdetektei von Schleewitz. Ich kann jetzt schon sagen, ich bin „angefixt“! Aber jetzt erst mal zum Inhalt:

Ein paar Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs entdecken zwei Jugendliche in einem stillgelegten Eisenbahntunnel in Berchtesgaden Kunstwerke von bis dahin unschätzbarem Wert; ein Waggon voll mit Gemälden, die als „entartete Kunst“ gelten. Besonders angetan hat es ihnen ein Bild mit blauen Pferden, das zumindest einen von ihnen, den 15-jährigen Ludwig, sofort in seinen Bann zieht. Noch nie hat ihn etwas in einer solchen Weise emotional berührt.

„Ein Bild merkt, wenn es wirklich betrachtet wird. Nur dann zeigt es, was es zu zeigen hat. Nur dann beginnt es zu sprechen. Es war ein großer Irrtum zu glauben, dass ein Bild bloß eine bemalte Fläche war.“ (Seite 147)

Im Jahre 2017 taucht eben dieses, als verschollen geglaubte Gemälde, wieder auf. Der Großindustrielle Schwarzer ersteht den “Turm der blauen Pferde“ auf unkonventionelle Weise für ein kleines Vermögen Ein junger Mann hatte es ihm auf der Straße angeboten und schnell waren sie geschäftseinig. Um herauszufinden, wie dieses berühmte Gemälde an einen Straßenhändler gelangt und wo es sich in all den Jahren aufgehalten hat, beauftragt Schwarzer die Münchner Kunstdetektei von Schleewitz. Natürlich wird auch ein Gutachter hinzugezogen, der bestätigt, dass es sich um das Original des 1913 entstandenen Kunstwerks von Franz Marc handelt.

Rupert von Schleewitz, Klara Ivanovic und Max Müller, das Team der Detektei, machen sich also an die Recherche. Rupert ist der Chef des Teams, Klara die Kunstverständige und Max zuständig für jegliche Recherche am Computer und in Archiven. Diese Unterschiedlichkeit der Charaktere und Fertigkeiten verspricht effiziente Arbeit an dem Fall und schon bald wird in alle Richtungen ermittelt. Auch führt die Spur nach Berchtesgaden und es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, in dem keiner mehr sicher sein kann, was Original und was Fälschung des berühmten Bildes ist. Ach ja, fast hätte ich‘s vergessen, gemordet wird in diesem Krimi auch.

In einfacher, flüssig zu lesende Sprache erzählt, überrascht der Autor mit überaus spritzig witzigen und schlagfertigen Dialogen. Hier beweist Bernhard Jaumann einen spitzfindigen Humor. Besonders schön und fast schon poetisch beschrieben sind das Gemälde selbst und das was Ludwig bei seinem Anblick empfindet.

„Köpfe und Kruppen von vier blauen Pferden drängten sich in- und übereinander, als wären sie eins, ein zugleich kraftvolles wie scheues Wesen. Stilisiert und doch lebendig, hart in den Konturen und doch in weichen, wie vor Energie schwingenden Rundungen sich selbst beseelend. Zu einem Turm aus geballtem Leben schichteten sich die Pferde auf…..“ (Seite 13)

Ein bisschen musisch angehaucht zu sein kann für diese Lektüre nicht schaden, ist aber auch zum Verständnis der Geschichte nicht notwendig. Auf jeden Fall macht das Thema Lust auf die schönen Künste und ist ein Anstoß, ein so altes Werk mit seiner eigenen Geschichte und vielleicht sogar seinen Künstler auf neue Art zu betrachten. Für mich war das ein riesiger Spaß!

Mit diesem einzigartigen und spannenden Kunstkrimi hat es Bernhard Jaumann auf die Longlist der diesjährigen Crime Cologne geschafft; meiner Meinung nach zu Recht!

Ich kann nur dazu raten, lesen lesen, unbedingt lesen!


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Donnerstag, 20. Juni 2019
Cay Rademacher „Ein letzter Sommer in Méjean“
Die Luft flirrt in der Hitze, man hört die lauten Gesänge der Zikaden, es duftet nach Pinienharz und die vom Meer glattgewaschenen Kieselsteine knirschen unter den Strandschuhen…..

„Die Deutschen sind wieder da!“ Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht im kleinen südfranzösischen Küstenort Méjean. Wieder bezieht die ehemalige Clique das Ferienhaus oberhalb der kleinen Bucht. Wie schon vor genau 30 Jahren, als die Jugendlichen es nach anstrengenden Abiturprüfungen noch mal richtig krachen lassen wollten, bevor der Ernst des Lebens sie in alle Winde verstreuen würde. Doch einer von ihnen ist diesmal nicht mit angereist: Michael, der Sohn aus reichem Hause, gut aussehend, dem alles irgendwie zuflog, ohne dass er sich groß anstrengen musste, mit vielen Talenten ausgestattet und von allen bewundert. Er fiel damals einem Verbrechen zum Opfer, wurde tot am Strand gefunden. Der Fall konnte nicht aufgeklärt werden.

Jetzt hatte jeder der anderen einen anonymen Brief erhalten, in dem ihnen der Verfasser versprach, die Umstände des rätselhaften Mordes endlich ans Licht zu bringen. Und alle kamen sie. Auch die Polizei in Marseille erhält einen Hinweis, der sie dazu zwingt noch einmal im alten Mordfall zu ermitteln. Also entsendet man Kommissar Renard, der gerade erst seinen Dienst nach langer Krankheit wieder aufnimmt. Er hat noch sehr mit den Folgen einer Krebserkrankung zu kämpfen. Ob man ihn noch etwas schonen möchte und deshalb an dieses idyllische Fleckchen schickt, oder weil er ein wenig Deutsch spricht, ist ihm nicht recht klar. Und so nimmt er sich, zunächst inkognito, ein kleines Zimmer im einzigen Restaurant am Ort. Doch bald schon pfeifen es die Spatzen vom Dach: „Ein Flic aus Marseille ist in der Stadt!“

Während alle sich fragen, wie es jetzt weitergeht, streift der ausgemergelte, von Krankheit gezeichnete Kommissar durch Méjean und trifft wie zufällig auf jeden einzelnen der damals Verdächtigen, Dorfbewohner wie Touristen. Nur zögerlich erzählen sie, jeder auf seine eigene Weise und jeder lässt ein kleines bisschen Wahrheit aus.

Der Autor entführt uns Leser in diese herrliche Kulisse des sommerlichen Südfrankreich. Lässt uns miträtseln, macht uns zu Beobachtern und Zeugen und streut zum richtigen Zeitpunkt ein kleines Quäntchen Information hinein, um uns Stück für Stück an die Wahrheit heranzuführen. Er wechselt die Zeitperspektiven und schildert all seine Figuren authentisch und überaus menschlich. Bald schon ist die Oberfläche brüchig und wir sehen, was wirklich darunter liegt. Denn jeder der Beteiligten hat so sein eigenes kleines Geheimnis, das er lieber für sich behalten hätte. Die unglaubliche Atmosphäre im Roman und die nervenaufreibende Spannung werden bis zum Schluss aufrecht gehalten.

Ein Krimi wie er unterhaltsamer nicht sein könnte. Davon will ich mehr!

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