Mittwoch, 28. Oktober 2020
Andreas Schäfer „Das Gartenzimmer“
Eine Villa in Berlin steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Andreas Schäfer, stellvertretend für einen Protagonisten. Die Geschichte erzählt von den Bewohnern dieses Hauses über mehr als ein Jahrhundert hinweg. Beginnend noch vor der Weimarer Republik und endend in jüngster Vergangenheit.

Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts macht das betuchte Ehepaar Adam und Elsa Rosen Bekanntschaft mit dem jungen, aufstrebenden Architekten Max Taubert. Schon bald geben Sie ihm den Auftrag, ihnen eine Villa in Grunewald zu bauen. Er habe alle Freiheiten, seiner Kreativität sei keine Grenze gesetzt. Alsbald beginnt Max, schon fast besessen von seinem ersten Projekt, Pläne für das Haus zu zeichnen. Alles ist genau durchdacht. Wegen der Schräge des Grundstücks wird zweistöckig geplant, jeder Raum, jede Nische nach Lichteinfall gestaltet. Auch gewaltige Säulen sollen das Gebäude schmücken.

Bei der Hauseinweihung im Jahre 1909, bei der die gesamte Berliner Prominenz aus Politik und Kunstschaffenden geladen ist, sind sich alle einig, dass von dieser Villa ein gewisser Zauber ausgeht. Der junge Architekt Max Taubert gilt fortan als der Begründer der Moderne. Nicht für jeden aber, der in den nächsten 100 Jahren das "Rosen-Haus", wie es genannt wird, bewohnt, hat es diese positive Wirkung. Für einige birgt es etwas Geheimnisvolles, löst eine gewisse Angst, ein ungutes Gefühl aus. Entwickelt sich zu einer Art Fluch, dessen man zu entfliehen sucht. Der wahre Grund dafür scheint, wie wir bald erfahren, in der Geschichte des Hauses zu liegen in der sich Verbrechen und Tragisches ereignete.

Andreas Schäfer erzählt seine Geschichte nicht chronologisch, sondern springt hin und her in den Zeitebenen. Lässt aber die einzelnen Teile sich parallel entwickeln. Aufgrund der langen Zeitspanne, die sich durch den Roman zieht, bleiben immer wieder gewisse „Räume“, Zeiträume unerwähnt. So sind wir Leser*innen hin und wieder gefordert, Begebenheiten selbst zusammenzusetzen. Letztendlich aber geht der rote Faden nie verloren.

Die zu Beginn des Romans detailfreudigen Schilderungen der Architektur sind durchaus für nicht versierte Leser*innen verständlich. Nach einem doch etwas holprigen Start fand ich mich gut in die Geschichte ein. Zwischendurch drohte mir das Verständnis der Zusammenhänge aufgrund kleiner Widersprüchlichkeiten in der Erzählung zu entgleiten. Am Ende bleiben diese kleinen Kritikpunkte nicht relevant, positive Eindrücke überwiegen. Das Lesevergnügen dieser außergewöhnlichen, gut durchdachten Story wurde dadurch in keinster Weise geschmälert.

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Samstag, 3. Oktober 2020
Gerhard Jäger „All die Nacht über uns“
„Und ein Schritt ist ein Schritt, er folgt der Zeit, durchschreitet den Raum, nirgends bleiben, nirgends stehen, nirgends Stillstand, ein ständiges Gehen, oder sollte er sagen ein ständiges weggehen? […] weg von inneren Bildern, die uns verfolgen und quälen, von den eigenen Wünschen, die sich nicht erfüllen lassen, weg von den eigenen Fehlern, die uns die Scham ins Gesicht treiben. Vielleicht sind wir alle ständig auf der Flucht […]“ (Seite 82).

Um eben dieses Thema, Flucht, geht es in Gerhard Jägers zweiten und letzten Roman. Und nicht nur die fremdländischen Flüchtlinge sind gemeint, die der Protagonist, ein Soldat ohne Namen, von seinem Turm aus an einer unbestimmten Landesgrenze abzuwehren versucht. Zur Not auch mit Waffengewalt, so der Befehl. Auch geht es um eine Flucht in der Vergangenheit, über die der Soldat in den Stunden der Wacht in den Aufzeichnungen seiner Großmutter liest. Nicht zuletzt, um sein eigenes Fliehen vor sich selbst, dem Leben und seinen Erinnerungen. Erinnerungen an schöne Zeiten, fröhliche Zeiten, seine große Liebe, aber auch an alles, was danach geschehen war. Noch immer halten den Soldaten auch die fremdländischen Augen innerlich gefangen, denen er bei kurzem Verlassen seines Wachturms begegnet war. Letztendlich ist er nicht nur Wind, Regen und Kälte ausgesetzt, sondern auch seinen Erinnerungen, Gefühlen und seiner Schuld. Und so fügen sich in dieser einen einsamen Nacht, die der Autor beschreibt, die Schicksale der Flüchtenden zusammen.

Durch Vermeidung jeglicher Namensgebung für Figuren und Ort schafft Gerhard Jäger ein universelles Bild der Handlung. Es könnte sich um irgendeinen Soldaten handeln, der Wachturm an jeder x-beliebigen Grenze stehen. Auch die Nacht könnte eine von vielen Nächten sein und doch spürt man die Verbindung zu Person, Ort und Zeit.

Der Autor hat die Gabe, Emotionen direkt und ohne Umschweife zu transportieren. Mit seiner außerordentliche Sprachgewalt und seinem Stil des Schreibens lässt er uns Leser*innen keine Zeit zum Durchatmen, keinen Raum für Oberflächlichkeiten. Die Kost ist eine Schwere, nicht einfach zu verdauen. So setzt er in seiner Geschichte einem noch so kleinen Quäntchen des Glücklichseins das Zehnfache an Melancholie und Tragik entgegen.

Ich selbst, obwohl dramatischen Romanen nicht abgeneigt, bin hier an meine persönliche emotionale Grenze des Erträglichen geraten. Am Ende ist es wohl eine Sache der Persönlichkeit, ob und wie weit man sich einlässt. Dennoch hätte ich um nichts in der Welt auf diesen ausdrucksstarken Roman verzichten wollen.


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Donnerstag, 20. August 2020
Giuliano Musio:“ Wirbellos“
Schon als Kind hat Martin das Gefühl, dass sich etwas Dunkles in ihm ausbreitet, etwas Düsteres in ihm wächst. So beschreibt er es für sich selbst. Aber nicht nur das macht ihn anders und zum Einzelgänger. Seine Stimme ist für einen Jungen viel zu hoch, die kleinen Augen liegen ungewöhnlich weit auseinander und er kann nicht Lügen. Er ist auch nicht zur kleinsten Schummelei imstande. Selbst die Eltern wissen es auszunutzen. In der Schule wird er gemoppt und belächelt bis er Oskar kennenlernt. Oskar lügt, dass sich die Balken biegen, erzählt jedem was ihm gerade so einfällt, ist fröhlich und vor allem beliebt und bewundert. Eine ungewöhnliche Freundschaft also, die sich da entwickelt.

Als auch Jahre später sogar Martins Freundin dessen Naivität auszunutzen weiß, beschließt Oskar kurzerhand seinem Freund das Lügen beizubringen. Zögernd erst lässt sich Martin darauf ein. Als Spiel oder Prüfung verpackt, kommt es am Flussufer zu einem verheerenden Zwischenfall, der nicht nur Martins Leben verändern soll.

Das Lügen bis zur Perfektion gelernt, zieht Martin später nach Bern, nimmt eine Stelle in der Zentralsterilisation des Krankenhauses an. Der Umgang mit benutztem chirurgischem Besteck scheint das dunkle Gewächs in ihm noch zu beflügeln. In der Stadt stellt er einer etwas älteren Frau nach und schnell ahnen wir, dass er etwas im Schilde führt. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Wie eine Schnecke ihre Schleimspur zieht Martin eine Spur der emotionalen Verwüstung hinter sich her und droht sich selbst zu verlieren.

Der künstlerischen Freiheit lässt Giuliano Musio wieder einmal freien Lauf, als könne er sich alles erlauben. Und was soll ich sagen: er kann! So holt er etwa das Mittelmeer direkt nach Bern, erzählt von Stränden, einem Hafen und auch einem Ozeaneum. Man vergnügt sich mit Delphin-Watching, Segeltouren und Flanieren auf der Promenade.

In diesem Setting siedelt der Autor seine Geschichte an, in der es an schrägen und skurrilen Figuren nicht mangelt. Kaum ein Autor amüsiert und überrascht mich mit seinen Erfindungen der Charaktere derart wie er. Aber nicht immer muss man sie mögen und selten sympathisiert man mit ihnen. Martin hat mich gehörig auf die Palme gebracht. Ich hätte ihn schütteln mögen, ohrfeigen und habe ihn wegen seines respektlosen Verhaltens geradezu verachtet. Aber ein Quäntchen Mitleid schwang immer mit.

Trotz dieses Sammelsuriums an Absurditäten, hält der Autor an diesem einen roten Faden fest, der uns am Ende nachdenklich macht. Der Kern dieser Geschichte ist ein sehr ernster, sodass einem beim Lesen ab und an das Lachen im Halse stecken bleibt. Genau diese Ambivalenz macht für mich die Bücher von Giuliano Musio so lesenswert.


Ebenfalls hier im Blog rezensiert:
Scheinwerfen
Keinzigartiges Lexikon


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Sonntag, 12. Juli 2020
Gerhard Jäger „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ Hörbuch
Gelesen von Peter Matić und Manuel Rubey

Jahre nach dem Tod seiner Frau macht sich der über 80-jährige John Miller auf die beschwerliche Reise von Amerika nach Europa, um dort einem Geheimnis seines Cousins Max Schreiber auf den Grund zu gehen. Lange schon hatte er seiner Frau Rosalind von dem Verwandten erzählt, der nach einem Verbrechen auf mysteriöse Weise verschwand. Ziel seiner Reise ist Österreich, genauer gesagt Innsbruck.

Dort begibt er sich täglich in das Landesarchiv zur Recherche. Eine freundliche junge Frau nimmt sich seiner an und versorgt ihn mit den gesuchten Unterlagen. An einem für ihn bereitgestellten, ruhigen Platz öffnet er einen Karton, der auf Anfang der 1950er Jahre datiert ist. Darin befinden sich Ermittlungsunterlagen und Polizeiberichte zu einem damaligen Verbrechen und außerdem Aufzeichnungen seines Cousins. John Miller beginnt darin zu lesen.

Der Journalist Max Schreiber reist Anfang der 1950 Jahre in ein kleines Bergdorf in Tirol. Dort nimmt er ein Zimmer in der einzigen Gastwirtschaft am Ort, um für seinen Roman zu recherchieren. Vor vielen Jahrzehnten soll es hier eine Art Hexe mit übersinnlichen Fähigkeiten gegeben haben. Über sie will er schreiben. Im Dorf zunächst belächelt und gemieden, schafft er es allmählich, seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Seine Spurensuche führt ihn immer wieder in andere Richtungen, was seinen Aufenthalt verlängert. Denn jeder der Befragten weiß etwas anderes zu berichten. Als ein großer Schneesturm über Tirol hereinbricht, und das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten ist, kämpft er Seite an Seite mit den Menschen gegen die weißen Massen. Doch dann wird eine Tote im Schnee gefunden und Schreiber verschwindet spurlos.

In seinem Romandebüt erzählt Gerhard Jäger quasi eine Geschichte in der Geschichte. Dementsprechend wechseln Ort- und Zeitperspektiven. Parallel zur Geschichte Schreibers, entwickeln sich für uns Leser*innen nach und nach Einzelheiten aus John Millers Leben. Der Autor bleibt ganz dich bei seinen Figuren, schaut emphatisch in sie hinein, beschreibt das Setting in all seinen Einzelheiten und erzeugt damit eine unglaubliche Atmosphäre. Eine Düsternis, die mit Händen zu greifen scheint. Sprachlich ausgefeilt und hervorragend vorgetragen von Peter Matić und Manuel Rubey. An beider Leseart, langsam, bedacht und treffend betont, musste ich mich zunächst gewöhnen. Nach kurzer Zeit aber schon war ich fasziniert. Sie hauchen den Figuren eine enorme Tiefgründigkeit ein, geben dem genialen Text eine schwermütige Aura und dem Buch den letzten Schliff.

Seit langem das beste Hörbuch, das ich auf den Ohren hatte. Höchste Empfehlungsstufe!


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Sonntag, 21. Juni 2020
Jo Nesbø „Messer“ (Ein Harry-Hole-Krimi 12)
Übersetzung Günther Frauenlob

Ein Mann, eingesperrt in einem Auto, treibt im Fluss. Der Mann scheint nach Luft zu schnappen, um Atem zu ringen, die Augen weit geöffnet schlägt er gegen die Seitenscheibe. Bevor der Wagen gänzlich versinkt, registriert der Beobachter die grellblauen Augen des Ertrinkenden und die panische Angst in ihnen. Wir alle ahnen es längst: es scheint sich um Harry Hole zu handeln!

Mit dieser fulminanten Szene katapultiert uns Jo Nesbø geradewegs inmitten seines aktuellen Kriminalromans, rasant und augenblicklich fesselnd. Von diesem schockierenden Punkt ausgehend führt er uns zum Anfang der Geschichte: Harry Hole, ehemaliger Ermittler der Osloer Polizei ist vom Dienst suspendiert, von seiner Frau getrennt und schlittert wieder einmal von einem Saufgelage zum nächsten. Nach einer Kneipenschlägerei, an die er sich selbst nur vage erinnern kann, wacht er am Morgen in seiner Wohnung auf; die Knöchel seiner Hand wund, Blutflecke auf der Jeans und einem mächtigen Kater. Noch bevor die Ernüchterung eintritt erhält er die erschütternde Nachricht, dass seine Frau Rakel Fauke tot in ihrem Haus gefunden wurde. Eine Videonachricht, die bei der Polizei eintrifft und Details der Tat zeigt, trägt ganz klar die Handschrift Svein Finnes. Seit Jahren schon wird nach dem stadtbekannten Vergewaltiger gefahndet.

Nach Tagen der Ausnüchterung macht sich Harry Hole auf eigene Faust an die Ermittlung nach dem Mörder. Bald schon scheint er sich zu verstricken, denn nicht nur Finne steht auf der Liste der Verdächtigen. Hilfe erfährt er von seiner ehemaligen Kollegin und Geliebten Kaya Solness, die eben aus dem Kriegsgebiet Afghanistans zurückgekehrt ist.

Ganz nach Agatha-Christie-Manier präsentiert uns der Autor einen potentiellen Täter nach dem anderen. Jeden einzelnen von ihnen beleuchtet er genauestens, erzählt ihre persönliche Geschichte und lässt uns Leser*innen an deren Vergangenheit teilhaben. Mit schon fast philosophischem Gedankengut geschmückt, zieht sich die Story in die Länge und droht vom eigentlichen Fall abzuweichen. Doch redeten wir nicht von Jo Nesbø, fügte sich nicht nahtlos ein Detail ins andere.

Wir erleben in diesem, dem zwölften Fall, einen anderen Harry Hole, einen geläuterten, nachdenklichen und verletzlichen Typen. Traumatisiert von Verlust und Trauer. Dennoch überschreitet der Antiheld Hole wieder einmal die Grenze zum Illegalen und wirft damit Fragen zu moralischem Verhalten auf. Mehr als üblich konfrontiert uns Jo Nesbø mit gesellschaftspolitischen Themen.

Am Ende überrascht der Krimi mit höchster Spannung, die dem Anfang des Buches in nichts nachsteht.

Ebenfalls hier im Blog:
Durst
Koma

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Donnerstag, 4. Juni 2020
Jan Costin Wagner „Sommer bei Nacht“
Jannis ist weg! Eben war der 8jährige Junge noch da. Sie waren beim Flohmarkt, Jannis, seine Mutter und Sarah, die große Schwester. Als sich seine Mutter umdreht, ist Jannis verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Familie Meininger passiert wohl hier das Schlimmste, was man sich als Eltern vorstellen kann.

„Die Zeit hat sich verdichtet. Hat sich reduziert. Im Bruchteil einer Sekunde. Ein weiter Raum ist geschrumpft. Auf ein kleinstmögliches Maß. Auf ein buntes Gemälde, eine Zeichnung, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint.“ (281)

Die Wiesbadener Kriminalpolizei schickt Ben Neven und Christian Sandner nach Biebrich, um sich des Vermisstenfalles anzunehmen. Beide sind äußerst zurückhaltende und stille Charaktere, in Ihrer Arbeit gelten sie als gründlich und gewissenhaft. Lediglich der/die Leser/in erfährt bald, was in beiden Köpfen vor sich geht. Die polizeilichen Befragungen finden direkt am Ort des Geschehens statt. Ein Mitschüler will gesehen haben, wie Jannis, einen riesigen Teddybären im Arm, mit einem Mann gesprochen hat. Alles geht nur sehr schleppend voran, bis in den nächsten Tagen eine Überwachungskamera interessante Bilder für die Polizei liefert. Mit steigender Medienpräsenz nehmen die Ermittlungen an Fahrt auf.

Diese steigende Geschwindigkeit und Spannung ist beim Lesen geradezu greifbar. Es ist zu spüren, dass etwas auf einen Höhepunkt hinausläuft. Das war der Moment, an dem ich das Buch immer wieder weglegen musste, weil das, was vielleicht kommen würde, unerträglich zu sein schien.

Jan Costin Wagner versteht es mit wenigen Worten und ohne es direkt auszusprechen das Grausame und Schreckliche in unseren Köpfen entstehen zu lassen. Das ist seine Kunst. Entgegen dem eigentlichen Krimi-Genre versteht er es, den Fokus nicht unbedingt nur auf den Fall zu legen, sondern auch auf das Innere seiner Figuren, die, einer wie der andere, mit ihren eigenen persönlichen Schicksalen zu kämpfen haben. Der Autor lässt uns all diese Gedanken und Gefühle der Protagonisten miterleben.

Es sind die schmerzlichen Themen Pädophilie und Kindesmissbrauch, deren sich Jan Costin Wagner in diesem Krimi annimmt. Zu sehr an der Realität, als dass man das Lesen als Entspannung betrachten könnte. Ein durch und durch düsteres Buch, dennoch unbedingt lesen!

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Auch hier im Blog rezensiert:

Tage des letzten Schnees
Sakari lernt, durch Wände zu gehen

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Freitag, 17. Januar 2020
Jan Kjærstad „Berge“
Übersetzung Bernhard Strobel

Ich muss es gleich vorweg sagen, kann mit meiner Meinung nicht hinterm „Berge“ halten: ich bin begeistert! Bereits zum zweiten Mal hat mich der hierzulande noch nicht so bekannte norwegische Autor Jan Kjærstad mitgerissen. Sprachlich so herausragend und besonders, der Lesegenuss vergleichbar mit dem Schlürfen eines guten Weines, mit langem Abgang. Aber zuerst zum Inhalt:

In einer Ferienhütte, im Wald, in der Nähe von Oslo werden fünf Leichen gefunden, allesamt auf bestialische Weise ermordet. Bald wird publik, dass sich unter ihnen der Vorsitzende der Arbeiterpartei Arve Storefjeld und dessen erwachsene Tochter Gry, ebenfalls stark politisch engagiert, befinden. Statt jetzt aber dem üblichen Krimigenre, Polizei, Ermittlung und Täterüberführung zu folgen, geht der Autor einen anderen Weg. Er stellt Überlegungen an, wer um alles in der Welt, dem kleinen friedlichen Norwegen schaden will. Sollte es sich etwa um einen Terroranschlag halten? Das ganze Land ist erschüttert, gilt es doch als Nation, die sich nicht einmischt, aus den großen politischen Debatten Europas und der Welt heraushält und den Ruf als friedliches Völkchen in beschaulicher Natur genießt. Ein solcher Vorfall rüttelt alle auf, Urteile sind schnell gefasst und man strebt nach einer erfolgreichen und möglichst schnellen Aufklärung.

„Das war das Wertvollste, das wir hatten.[…]Auch in der Zeit nach dem Krieg hatten wir uns meist mit Glanz bewährt. Durch Heraushalten nämlich. Es war uns gelungen, abgeschieden zu leben, unsere Verhältnisse so beneidenswert einzurichten, dass wir es vermeiden konnten, hineingezogen zu werden. In den Dreck, in die Barbarei der Gewalt.“ (Seite 172)

Um das Große und Ganze zu verdeutlichen bedient sich Jan Kjærstad dreier Personen. Zum einen Ine Wang, erfolgreiche Journalistin, die, auch mit schlechtem Gewissen, in diesem spektakulären Ereignis ihre Erfolgschancen wittert (gerade erst hat sie den großen Politiker Arve Storefjeld interviewt und ein biografisches Manuskript erstellt). Zum Zweiten, der angesehene Richter Peter Malm, den wir Leser als besonnenen, aber auch sehr speziellen Zeitgenossen kennen lernen. Die meiste Zeit ist der Pedant mit sich selbst und seinen eigenen Interessen beschäftigt, bis er aufgrund des mutmaßlichen Anschlages beginnt, die derzeitige Situation im Land zu analysieren. Und last but not least Nicolai Berge, dem oppositionellen Flügel der Arbeiterpartei zugehörig, der sich in jungen Jahren Hals über Kopf in die junge Gry Storefjeld verliebt hatte.

Der Autor bedient sich des Mordfalls lediglich als Ausgangspunkt, keinesfalls als Mittelpunkt des Romans. Vielmehr lässt er daraus seine Geschichte entstehen, eine Geschichte über die Gesellschaft Norwegens, politische Machenschaften, Vorurteile und der allgemeine Hang zur Harmonie.
Mit seiner Sprachbegabung, Eloquenz und Empathie für die Menschen wird Jan Kjærstad in Zukunft bei meiner Lektüreauswahl immer ganz vorne dabei sein.

Und so wird das zuletzt gelesene Buch des Jahres zum Highlight desselben.



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Freitag, 30. August 2019
Mareike Fallwickl „Das Licht ist hier viel heller“
Wo ist sie geblieben, die Zeit, in der er ein erfolgreicher Schriftsteller war, ein gefragter Mann bei der Presse, in Literaturkreisen und bei den Frauen. Nichts hat er anbrennen lassen damals, in keinem der Bereiche. Jetzt haust Maximilian Wenger mehr schlecht als recht in einer kleinen Mietwohnung; um ihn herum herrscht Chaos. Seine Schwester versorgt ihn mit Essen während er sich gehen lässt. Alles scheint verloren, seine Frau, sein Haus, seine Kinder und vor allem seine Inspiration. Täglich schlurft er ungewaschen und mit Schlappen an den Füßen, sich am mittlerweile dicken Bauch kratzend, zum Briefkasten. Eines Tages findet er dort einen handgeschriebenen Brief, adressiert an seinen Vormieter. In Abständen kommen weitere Briefe und Wenger wird neugierig. Er beginnt darin zu lesen, fasziniert von der poetischen Sprache, den klaren Worten, die von einem schrecklichen Ereignis erzählen.

Zwischenzeitlich befindet sich seine Exfrau, eine erfolgreiche Influencerin, mit ihrem neuen Partner auf Reisen, um ein Video für ihren Beauty- und Fitnesskanal zu drehen. Die fast volljährigen Kinder der Wengers, Zoey und Spin, sind wie so oft auf sich selbst gestellt, sie kennen das, es war nie anders. Die Geschwister haben deshalb eine ganz besondere Verbindung. Sie sind füreinander da, stehen einander bei in Krisenzeiten und geben sich Halt. Beide Jugendliche versuchen in dieser Zeit ihre eigenen Wege zu finden, privat wie beruflich. Die kurzen Besuche beim Vater überbrücken Sie mit telefonieren, chatten oder Spielen am Handy. Bei einem dieser verhassten Pflichtbesuche entdeckt Zoey die Briefe, liest darin und findet sich in den traurigen, aber auch zornigen Worten der fremden Frau wieder. Denn auch Zoey selbst ist etwas zugestoßen, von dem kaum jemand weiß. Ihren Vater hätte sie da am dringendsten gebraucht, doch der war mal wieder nicht verfügbar.

Was zu Beginn des Buches humorvoll, fast satirisch anmutet, trägt im Ganzen gesehen einen tiefgründigen Kern. Der Themen gibt es viele in Mareike Fallwickls zweitem Roman. Im Vordergrund aber stehen Machtmissbrauch, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und der Umgang mit Grenzen, die gezogen und im nächsten Moment von anderen missachtet werden. Motive also, wie sie aktueller und wichtiger nicht sein könnten. Die Autorin legt außerdem den Finger tief in die Wunde unserer heutigen kurzlebigen Gesellschaft, in der scheinbar Erfolg und Ansehen mehr zählen, als alles Andere. Man könnte den Text als kleinen Rundumschlag bezeichnen, bei dem unter anderem die gesamte Literatur- und Verlagsbranche und die Neuen Medien eine gehörige “Watschen“ erfahren.

Sprachlich lässt sich Mareike Fallwickl von ihren Figuren leiten. Mal obszön und chauvinistische, mal frech, fesch und spritzig und ein anderes Mal sehr rührend und poetisch. Obwohl sie hin und wieder doch für meinen Geschmack zu tief in die Klischeekiste gegriffen hat, finden sich in ihrem Roman eine Menge herausragender Gedanken und Sätze. Das, was sie über eine Überlegung Wengers in folgendem Zitat schreibt, beherrscht sie selbst aus dem Effeff.

„Weil diese Energie, die durch die Sprache in den Briefen flirrt, ihn erinnert an die Macht, die er selbst einmal besessen hat. Er hat gespürt, was Worte auslösen können, was auch er einmal auslösen konnte mit Worten, alles eigentlich, Worte waren sein Stoff, sein Atem, sein Wesen. Er konnte sie herumwirbeln, aufeinanderstapeln, Löcher lassen dort, wo es Still sein musste. Und die Worte, die auf die Stille folgten, waren noch viel lauter.“ (Seite 54)

Eine ganze Palette an Gefühlen hat der Roman in mir ausgelöst, die wenigsten davon waren angenehm. Ein Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren einlädt. Lasst uns diese Einladung annehmen!


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Montag, 22. Juli 2019
Bernhard Jaumann „Der Turm der blauen Pferde“
Dieses Buch ist der Auftakt einer neuen, vielversprechenden Krimireihe um die Münchner Kunstdetektei von Schleewitz. Ich kann jetzt schon sagen, ich bin „angefixt“! Aber jetzt erst mal zum Inhalt:

Ein paar Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs entdecken zwei Jugendliche in einem stillgelegten Eisenbahntunnel in Berchtesgaden Kunstwerke von bis dahin unschätzbarem Wert; ein Waggon voll mit Gemälden, die als „entartete Kunst“ gelten. Besonders angetan hat es ihnen ein Bild mit blauen Pferden, das zumindest einen von ihnen, den 15-jährigen Ludwig, sofort in seinen Bann zieht. Noch nie hat ihn etwas in einer solchen Weise emotional berührt.

„Ein Bild merkt, wenn es wirklich betrachtet wird. Nur dann zeigt es, was es zu zeigen hat. Nur dann beginnt es zu sprechen. Es war ein großer Irrtum zu glauben, dass ein Bild bloß eine bemalte Fläche war.“ (Seite 147)

Im Jahre 2017 taucht eben dieses, als verschollen geglaubte Gemälde, wieder auf. Der Großindustrielle Schwarzer ersteht den “Turm der blauen Pferde“ auf unkonventionelle Weise für ein kleines Vermögen Ein junger Mann hatte es ihm auf der Straße angeboten und schnell waren sie geschäftseinig. Um herauszufinden, wie dieses berühmte Gemälde an einen Straßenhändler gelangt und wo es sich in all den Jahren aufgehalten hat, beauftragt Schwarzer die Münchner Kunstdetektei von Schleewitz. Natürlich wird auch ein Gutachter hinzugezogen, der bestätigt, dass es sich um das Original des 1913 entstandenen Kunstwerks von Franz Marc handelt.

Rupert von Schleewitz, Klara Ivanovic und Max Müller, das Team der Detektei, machen sich also an die Recherche. Rupert ist der Chef des Teams, Klara die Kunstverständige und Max zuständig für jegliche Recherche am Computer und in Archiven. Diese Unterschiedlichkeit der Charaktere und Fertigkeiten verspricht effiziente Arbeit an dem Fall und schon bald wird in alle Richtungen ermittelt. Auch führt die Spur nach Berchtesgaden und es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, in dem keiner mehr sicher sein kann, was Original und was Fälschung des berühmten Bildes ist. Ach ja, fast hätte ich‘s vergessen, gemordet wird in diesem Krimi auch.

In einfacher, flüssig zu lesende Sprache erzählt, überrascht der Autor mit überaus spritzig witzigen und schlagfertigen Dialogen. Hier beweist Bernhard Jaumann einen spitzfindigen Humor. Besonders schön und fast schon poetisch beschrieben sind das Gemälde selbst und das was Ludwig bei seinem Anblick empfindet.

„Köpfe und Kruppen von vier blauen Pferden drängten sich in- und übereinander, als wären sie eins, ein zugleich kraftvolles wie scheues Wesen. Stilisiert und doch lebendig, hart in den Konturen und doch in weichen, wie vor Energie schwingenden Rundungen sich selbst beseelend. Zu einem Turm aus geballtem Leben schichteten sich die Pferde auf…..“ (Seite 13)

Ein bisschen musisch angehaucht zu sein kann für diese Lektüre nicht schaden, ist aber auch zum Verständnis der Geschichte nicht notwendig. Auf jeden Fall macht das Thema Lust auf die schönen Künste und ist ein Anstoß, ein so altes Werk mit seiner eigenen Geschichte und vielleicht sogar seinen Künstler auf neue Art zu betrachten. Für mich war das ein riesiger Spaß!

Mit diesem einzigartigen und spannenden Kunstkrimi hat es Bernhard Jaumann auf die Longlist der diesjährigen Crime Cologne geschafft; meiner Meinung nach zu Recht!

Ich kann nur dazu raten, lesen lesen, unbedingt lesen!


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