Donnerstag, 18. Februar 2021
Jan Seghers "Der Solist"
Der Frankfurter Kriminalkommissar Neuhaus wird in die Hauptstadt berufen. Die Sondereinheit für terroristische Abwehr (SETA) arbeitet an einem diffizilen Fall. Ein bekanntes Mitglied der Berliner Jüdischen Gemeinde wurde tot in einem Park gefunden. Der Schuss in den Hinterkopf lässt eine Art Hinrichtung vermuten. Das bestätigt sich, als kurz darauf ein Bekennerschreiben des IS in der Nähe der Leiche gefunden wird. Darin beruft man sich auf einen gewissen Anis Amri.

In Berlin im Sonderdezernat angekommen, beäugt man Neuhaus zunächst kritisch. Auch der Chef der Einheit macht keinen Hehl aus seiner Abneigung dem hessischen Neuzugang gegenüber. Ist dieser doch niemandem direkt unterstellt, so die Order. Ein Solist also. Nach kurzer Einweisung in den aktuellen Mordfall stellt man Neuhaus die eigenwillige Suna-Marie, von allen nur Grabowski genannt, zur Seite. Auch sie gilt, wie Neuhaus auch, nicht unbedingt als Teamplayer.

Er ist introvertiert und nicht leicht zu durchschauen, sie ist draufgängerisch und geradeheraus; auf den ersten Blick unvereinbare Eigenschaften. Die beiden tun sich schwer in den ersten Tagen, merken dann aber, dass auch zwei Einzelgänger ein recht passables Team abgeben. In Neukölln aufgewachsen kennt Grabowski nicht nur ihr Berlin wie die eigene Westentasche, sondern teilt auch ihr umfangreiches Wissen der terroristischen Anschläge der letzten Jahre mit Neuhaus. Ebenso weiß sie über jeden der Kollegen etwas zu berichten.

Manches ist anders im neuen Krimi von Jan Seghers, die Figuren, das Setting, und die Auswahl des Themas. Doch eines bleibt gleich: der Autor nimmt eine wahre Begebenheit als Basis für seine Geschichte. In diesem Fall der Anschlag auf die Besucher des Berliner Weihnachtsmarktes 2016. Der Name des Attentäters : Anis Amri

Süddeutsche Zeitung online Dez 2016:

Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Breitscheidplatz/ Ein LKW wurde absichtlich in die Menschenmenge auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gesteuert. Mindestens zwölf Menschen wurden getötet und 48 weitere verletzt. Die Polizei geht von einem Anschlag aus.


Die Geschehnisse, die in "Der Solist" beschrieben werden sind sozusagen die Folge dieses schrecklichen Abends. Jan Seghers bringt uns Leser*innen souverän und mit einfacher schnörkelloser Sprache durch diese Story. Er legt Seite für Seite an Spannung und Geschwindigkeit zu, dass es mir schwerfiel mich loszureißen. Lädt wegen der Nähe zur Realität, wie in vorherigen Büchern, zu eigener Recherche ein.

Ich will mehr davon! Gerne hätten es für meinen Geschmack 100 Seiten mehr sein können.


Ebenfalls hier im Blog:

Menschenfischer
Die Sterntaler Verschwörung
Der Autor aus meiner Sicht


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Mittwoch, 3. Februar 2021
Håkan Nesser „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“
Übersetzung Paul Berf

2013 - Es ist der ganz normale Alltag bei der Kriminalpolizei Kymlinge, als ein Mann bei den Inspektoren Barbarotti und Backmann auftaucht und ihnen erzählt, er werde bedroht. Einige Briefe habe er erhalten und einen Anruf. Ein gewisser „Nemesis“ wünsche seinen Tod. Er habe dafür durchaus Verständnis. Ein Busunglück habe sich fünf Jahre zuvor ereignet, bei dem mehrere Menschen ihr Leben gelassen hätten. Er selbst sei der Busfahrer gewesen. Noch bevor Polizeischutz gewährleistet wird, geschieht etwas Unvorhergesehenes.

2018 - In diesem Herbst nehmen Gunnar Barbarotti und Eva Backmann, längst auch offiziell ein Paar, eine berufliche Auszeit. Eva hatte im Dienst von ihrer Waffe Gebrauch machen müssen und dabei einen Menschen getötet. Nichts, was man einfach so wegsteckt. Da kommt die Idee ihres Partners gerade recht, für 2 Monate ein Ferienhaus auf Gotland zu beziehen. Die Insel ist zu dieser Jahreszeit wenig belebt und so verspricht der Aufenthalt eine Menge Entspannung. Bei einem ihrer abendlichen Spaziergänge dort glaubt Barbarotti in einem Fahrradfahrer einen ihm wohlbekannten Mann zu erkennen. Von da an lässt ihn dieser eine Gedanke nicht mehr los: wer war dieser kleine bärtige Mann mit dem roten Fahrrad? Um dieser Sache nachzugehen, fordert er Akten eines alten Falles an. Es dauert nicht lange bis sich beide Kriminalisten kopfüber in die Ermittlungsarbeit stürzen.

Zwischen diesen beiden Zeitebenen springt der Autor hin und her und erzeugt damit eine immense Spannung. Obwohl wir Leser*innen einen Wissensvorsprung genießen, wir zwischendurch in privaten Aufzeichnungen lesen können, bringt uns das scheinbar dem komplizierten Fall kaum ein Stück näher. Das ist eine Stärke Håkan Nessers Schreiben, uns immer wieder im Unklaren zu lassen. Eine der Strategien, die er dafür benutzt, scheint er einer seiner Figuren geradewegs in den Mund zu legen:

„Wenn man schreibt, darf man den Leuten nicht alles unter die Nase reiben, erklärte Anders. Man soll sie in dem Glauben wiegen, dass sie intelligent sind und selbst die Schlussfolgerungen ziehen,…“ (Seite 404)

Für mich persönlich hat hier wieder alles gestimmt. Eine äußerst geschickt konstruierte Geschichte und Spannung bis zum Schluss. Die Figuren sind authentisch und sympathisch, zeigen sich auch mal nachdenklich (fast schon philosophisch) und verletzlich. Vor allem aber kommen sie äußerst menschlich daher. Besonderen Lesespaß bereiten außerdem das liebevoll, spritzige Geplänkel zwischen den beiden Kommissaren, das auch stets ein Quäntchen Ironie erkennen lässt.

Ein Krimi, der gänzlich ohne die gewohnten Thrillereffekte auskommt und durch psychologische Raffinesse besticht.


Weiteres vom Autor hier im Blog:
Der Fall Kallmann
Die Lebenden und Toten von Winsford Hörbuch
Himmel über London
Am Abend des Mordes


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Dienstag, 22. Dezember 2020
Jürgen Bauer „Portrait“
An einem gewissen Punkt im Leben angelangt, fragt Georg Menschen seines Umfelds nach deren persönlichen Erinnerungen, ihn betreffend. Am Ende sind es drei Monologe, in denen er selbst nur in den Erzählungen der anderen zu Worte kommt.

„Aber nicht, dass du glaubst, dass ich dich nicht liebgehabt hätte. Es ist nur anders gewesen, das Liebhaben. Deinen Bruder hab ich verstanden, dich nicht.“ (Seite 50)
Von vielen Schicksalsschlägen in ihrem eigenen Leben verbittert, findet Mariedl, die Mutter, nicht viele gute Worte für ihren Schorsch, wie sie ihn nennt. Griesgrämigkeit und Unverständnis sind vorherrschend in ihrem Bericht. Sie klagt an.

„Den Mund halt ich nie, wieso auch? Wenn dir einer blöd kommt, dann kommst ihm eben noch blöder […] und wenn einer nur komisch schaut, dann provozierst ihn ein bisserl, sonst hast keinen Spaß im Leben.“ (Seite 132)
Um den engen Konventionen des Elternhauses und des Dorfes zu entfliehen, sucht Gabriel als Jugendlicher schon sein Glück in Wien. Sein sexuelles Verlangen ist die Triebfeder seines Stricherdaseins in der Großstadt. Es sind schwere Zeiten für die Schwulenbewegung in den siebziger Jahren. Freiheitsdrang und Provokation bestimmen die Sprache des Liebhabers.

„Ich verliebte mich in dich, weil ich das Gefühl hatte, mit dir eine andere Machtdynamik erleben zu können, weil du mich mehr brauchtest als ich dich, …“ (Seite 265)
Von der eigenen Mutter weitgehend ignoriert, beruflich mäßig erfolgreich kommt Sara, die Ehefrau, unterkühlt und oberflächlich daher. Mit dem Wunsch möglichst wenig Engagement in diese Ehe zu bringen, schaut sie auf ihren eigenen Vorteil.

Inmitten dieser ganz unterschiedlichen Erzählungen fungiert der stille Protagonist Georg lediglich als Schnittmenge. Jürgen Bauer gibt jedem der drei Erzähler die eigene unverwechselbare Persönlichkeit, deren Authentizität er in Form der Sprache ausdrückt. Er nimmt hier kein Blatt vor den Mund und erzählt schonungslos und mit rhetorischem Geschick. Die Tiefgründigkeit der Worte lassen uns Leser*innen kaum Möglichkeit, uns emotional auch nur ein wenig rauszunehmen, lässt weder Ruhepausen noch inneren Abstand zu und holt uns auf teilweise tragische Weise immer wieder tief ins Geschehen.

Wenn ein Roman mich in eine Welt mitnimmt, die mir weitgehend unbekannt ist, meinen Horizont zu erweitern vermag, wenn er mich aufrüttelt, mich auch mal schockiert, ab und an unbequem ist und weh tut, wenn die Geschichte mich traurig macht und lange nach der Lektüre nicht vom Schlafittchen lässt, ...... dann ist es ein guter Roman.

Unbedingt lesen!

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Mittwoch, 28. Oktober 2020
Andreas Schäfer „Das Gartenzimmer“
Eine Villa in Berlin steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Andreas Schäfer, stellvertretend für einen Protagonisten. Die Geschichte erzählt von den Bewohnern dieses Hauses über mehr als ein Jahrhundert hinweg. Beginnend noch vor der Weimarer Republik und endend in jüngster Vergangenheit.

Zu Beginn des 20sten Jahrhunderts macht das betuchte Ehepaar Adam und Elsa Rosen Bekanntschaft mit dem jungen, aufstrebenden Architekten Max Taubert. Schon bald geben Sie ihm den Auftrag, ihnen eine Villa in Grunewald zu bauen. Er habe alle Freiheiten, seiner Kreativität sei keine Grenze gesetzt. Alsbald beginnt Max, schon fast besessen von seinem ersten Projekt, Pläne für das Haus zu zeichnen. Alles ist genau durchdacht. Wegen der Schräge des Grundstücks wird zweistöckig geplant, jeder Raum, jede Nische nach Lichteinfall gestaltet. Auch gewaltige Säulen sollen das Gebäude schmücken.

Bei der Hauseinweihung im Jahre 1909, bei der die gesamte Berliner Prominenz aus Politik und Kunstschaffenden geladen ist, sind sich alle einig, dass von dieser Villa ein gewisser Zauber ausgeht. Der junge Architekt Max Taubert gilt fortan als der Begründer der Moderne. Nicht für jeden aber, der in den nächsten 100 Jahren das "Rosen-Haus", wie es genannt wird, bewohnt, hat es diese positive Wirkung. Für einige birgt es etwas Geheimnisvolles, löst eine gewisse Angst, ein ungutes Gefühl aus. Entwickelt sich zu einer Art Fluch, dessen man zu entfliehen sucht. Der wahre Grund dafür scheint, wie wir bald erfahren, in der Geschichte des Hauses zu liegen in der sich Verbrechen und Tragisches ereignete.

Andreas Schäfer erzählt seine Geschichte nicht chronologisch, sondern springt hin und her in den Zeitebenen. Lässt aber die einzelnen Teile sich parallel entwickeln. Aufgrund der langen Zeitspanne, die sich durch den Roman zieht, bleiben immer wieder gewisse „Räume“, Zeiträume unerwähnt. So sind wir Leser*innen hin und wieder gefordert, Begebenheiten selbst zusammenzusetzen. Letztendlich aber geht der rote Faden nie verloren.

Die zu Beginn des Romans detailfreudigen Schilderungen der Architektur sind durchaus für nicht versierte Leser*innen verständlich. Nach einem doch etwas holprigen Start fand ich mich gut in die Geschichte ein. Zwischendurch drohte mir das Verständnis der Zusammenhänge aufgrund kleiner Widersprüchlichkeiten in der Erzählung zu entgleiten. Am Ende bleiben diese kleinen Kritikpunkte nicht relevant, positive Eindrücke überwiegen. Das Lesevergnügen dieser außergewöhnlichen, gut durchdachten Story wurde dadurch in keinster Weise geschmälert.

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Samstag, 3. Oktober 2020
Gerhard Jäger „All die Nacht über uns“
„Und ein Schritt ist ein Schritt, er folgt der Zeit, durchschreitet den Raum, nirgends bleiben, nirgends stehen, nirgends Stillstand, ein ständiges Gehen, oder sollte er sagen ein ständiges weggehen? […] weg von inneren Bildern, die uns verfolgen und quälen, von den eigenen Wünschen, die sich nicht erfüllen lassen, weg von den eigenen Fehlern, die uns die Scham ins Gesicht treiben. Vielleicht sind wir alle ständig auf der Flucht […]“ (Seite 82).

Um eben dieses Thema, Flucht, geht es in Gerhard Jägers zweiten und letzten Roman. Und nicht nur die fremdländischen Flüchtlinge sind gemeint, die der Protagonist, ein Soldat ohne Namen, von seinem Turm aus an einer unbestimmten Landesgrenze abzuwehren versucht. Zur Not auch mit Waffengewalt, so der Befehl. Auch geht es um eine Flucht in der Vergangenheit, über die der Soldat in den Stunden der Wacht in den Aufzeichnungen seiner Großmutter liest. Nicht zuletzt, um sein eigenes Fliehen vor sich selbst, dem Leben und seinen Erinnerungen. Erinnerungen an schöne Zeiten, fröhliche Zeiten, seine große Liebe, aber auch an alles, was danach geschehen war. Noch immer halten den Soldaten auch die fremdländischen Augen innerlich gefangen, denen er bei kurzem Verlassen seines Wachturms begegnet war. Letztendlich ist er nicht nur Wind, Regen und Kälte ausgesetzt, sondern auch seinen Erinnerungen, Gefühlen und seiner Schuld. Und so fügen sich in dieser einen einsamen Nacht, die der Autor beschreibt, die Schicksale der Flüchtenden zusammen.

Durch Vermeidung jeglicher Namensgebung für Figuren und Ort schafft Gerhard Jäger ein universelles Bild der Handlung. Es könnte sich um irgendeinen Soldaten handeln, der Wachturm an jeder x-beliebigen Grenze stehen. Auch die Nacht könnte eine von vielen Nächten sein und doch spürt man die Verbindung zu Person, Ort und Zeit.

Der Autor hat die Gabe, Emotionen direkt und ohne Umschweife zu transportieren. Mit seiner außerordentliche Sprachgewalt und seinem Stil des Schreibens lässt er uns Leser*innen keine Zeit zum Durchatmen, keinen Raum für Oberflächlichkeiten. Die Kost ist eine Schwere, nicht einfach zu verdauen. So setzt er in seiner Geschichte einem noch so kleinen Quäntchen des Glücklichseins das Zehnfache an Melancholie und Tragik entgegen.

Ich selbst, obwohl dramatischen Romanen nicht abgeneigt, bin hier an meine persönliche emotionale Grenze des Erträglichen geraten. Am Ende ist es wohl eine Sache der Persönlichkeit, ob und wie weit man sich einlässt. Dennoch hätte ich um nichts in der Welt auf diesen ausdrucksstarken Roman verzichten wollen.


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Donnerstag, 20. August 2020
Giuliano Musio:“ Wirbellos“
Schon als Kind hat Martin das Gefühl, dass sich etwas Dunkles in ihm ausbreitet, etwas Düsteres in ihm wächst. So beschreibt er es für sich selbst. Aber nicht nur das macht ihn anders und zum Einzelgänger. Seine Stimme ist für einen Jungen viel zu hoch, die kleinen Augen liegen ungewöhnlich weit auseinander und er kann nicht Lügen. Er ist auch nicht zur kleinsten Schummelei imstande. Selbst die Eltern wissen es auszunutzen. In der Schule wird er gemoppt und belächelt bis er Oskar kennenlernt. Oskar lügt, dass sich die Balken biegen, erzählt jedem was ihm gerade so einfällt, ist fröhlich und vor allem beliebt und bewundert. Eine ungewöhnliche Freundschaft also, die sich da entwickelt.

Als auch Jahre später sogar Martins Freundin dessen Naivität auszunutzen weiß, beschließt Oskar kurzerhand seinem Freund das Lügen beizubringen. Zögernd erst lässt sich Martin darauf ein. Als Spiel oder Prüfung verpackt, kommt es am Flussufer zu einem verheerenden Zwischenfall, der nicht nur Martins Leben verändern soll.

Das Lügen bis zur Perfektion gelernt, zieht Martin später nach Bern, nimmt eine Stelle in der Zentralsterilisation des Krankenhauses an. Der Umgang mit benutztem chirurgischem Besteck scheint das dunkle Gewächs in ihm noch zu beflügeln. In der Stadt stellt er einer etwas älteren Frau nach und schnell ahnen wir, dass er etwas im Schilde führt. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Wie eine Schnecke ihre Schleimspur zieht Martin eine Spur der emotionalen Verwüstung hinter sich her und droht sich selbst zu verlieren.

Der künstlerischen Freiheit lässt Giuliano Musio wieder einmal freien Lauf, als könne er sich alles erlauben. Und was soll ich sagen: er kann! So holt er etwa das Mittelmeer direkt nach Bern, erzählt von Stränden, einem Hafen und auch einem Ozeaneum. Man vergnügt sich mit Delphin-Watching, Segeltouren und Flanieren auf der Promenade.

In diesem Setting siedelt der Autor seine Geschichte an, in der es an schrägen und skurrilen Figuren nicht mangelt. Kaum ein Autor amüsiert und überrascht mich mit seinen Erfindungen der Charaktere derart wie er. Aber nicht immer muss man sie mögen und selten sympathisiert man mit ihnen. Martin hat mich gehörig auf die Palme gebracht. Ich hätte ihn schütteln mögen, ohrfeigen und habe ihn wegen seines respektlosen Verhaltens geradezu verachtet. Aber ein Quäntchen Mitleid schwang immer mit.

Trotz dieses Sammelsuriums an Absurditäten, hält der Autor an diesem einen roten Faden fest, der uns am Ende nachdenklich macht. Der Kern dieser Geschichte ist ein sehr ernster, sodass einem beim Lesen ab und an das Lachen im Halse stecken bleibt. Genau diese Ambivalenz macht für mich die Bücher von Giuliano Musio so lesenswert.


Ebenfalls hier im Blog rezensiert:
Scheinwerfen
Keinzigartiges Lexikon


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Sonntag, 12. Juli 2020
Gerhard Jäger „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ Hörbuch
Gelesen von Peter Matić und Manuel Rubey

Jahre nach dem Tod seiner Frau macht sich der über 80-jährige John Miller auf die beschwerliche Reise von Amerika nach Europa, um dort einem Geheimnis seines Cousins Max Schreiber auf den Grund zu gehen. Lange schon hatte er seiner Frau Rosalind von dem Verwandten erzählt, der nach einem Verbrechen auf mysteriöse Weise verschwand. Ziel seiner Reise ist Österreich, genauer gesagt Innsbruck.

Dort begibt er sich täglich in das Landesarchiv zur Recherche. Eine freundliche junge Frau nimmt sich seiner an und versorgt ihn mit den gesuchten Unterlagen. An einem für ihn bereitgestellten, ruhigen Platz öffnet er einen Karton, der auf Anfang der 1950er Jahre datiert ist. Darin befinden sich Ermittlungsunterlagen und Polizeiberichte zu einem damaligen Verbrechen und außerdem Aufzeichnungen seines Cousins. John Miller beginnt darin zu lesen.

Der Journalist Max Schreiber reist Anfang der 1950 Jahre in ein kleines Bergdorf in Tirol. Dort nimmt er ein Zimmer in der einzigen Gastwirtschaft am Ort, um für seinen Roman zu recherchieren. Vor vielen Jahrzehnten soll es hier eine Art Hexe mit übersinnlichen Fähigkeiten gegeben haben. Über sie will er schreiben. Im Dorf zunächst belächelt und gemieden, schafft er es allmählich, seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Seine Spurensuche führt ihn immer wieder in andere Richtungen, was seinen Aufenthalt verlängert. Denn jeder der Befragten weiß etwas anderes zu berichten. Als ein großer Schneesturm über Tirol hereinbricht, und das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten ist, kämpft er Seite an Seite mit den Menschen gegen die weißen Massen. Doch dann wird eine Tote im Schnee gefunden und Schreiber verschwindet spurlos.

In seinem Romandebüt erzählt Gerhard Jäger quasi eine Geschichte in der Geschichte. Dementsprechend wechseln Ort- und Zeitperspektiven. Parallel zur Geschichte Schreibers, entwickeln sich für uns Leser*innen nach und nach Einzelheiten aus John Millers Leben. Der Autor bleibt ganz dich bei seinen Figuren, schaut emphatisch in sie hinein, beschreibt das Setting in all seinen Einzelheiten und erzeugt damit eine unglaubliche Atmosphäre. Eine Düsternis, die mit Händen zu greifen scheint. Sprachlich ausgefeilt und hervorragend vorgetragen von Peter Matić und Manuel Rubey. An beider Leseart, langsam, bedacht und treffend betont, musste ich mich zunächst gewöhnen. Nach kurzer Zeit aber schon war ich fasziniert. Sie hauchen den Figuren eine enorme Tiefgründigkeit ein, geben dem genialen Text eine schwermütige Aura und dem Buch den letzten Schliff.

Seit langem das beste Hörbuch, das ich auf den Ohren hatte. Höchste Empfehlungsstufe!


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Sonntag, 21. Juni 2020
Jo Nesbø „Messer“ (Ein Harry-Hole-Krimi 12)
Übersetzung Günther Frauenlob

Ein Mann, eingesperrt in einem Auto, treibt im Fluss. Der Mann scheint nach Luft zu schnappen, um Atem zu ringen, die Augen weit geöffnet schlägt er gegen die Seitenscheibe. Bevor der Wagen gänzlich versinkt, registriert der Beobachter die grellblauen Augen des Ertrinkenden und die panische Angst in ihnen. Wir alle ahnen es längst: es scheint sich um Harry Hole zu handeln!

Mit dieser fulminanten Szene katapultiert uns Jo Nesbø geradewegs inmitten seines aktuellen Kriminalromans, rasant und augenblicklich fesselnd. Von diesem schockierenden Punkt ausgehend führt er uns zum Anfang der Geschichte: Harry Hole, ehemaliger Ermittler der Osloer Polizei ist vom Dienst suspendiert, von seiner Frau getrennt und schlittert wieder einmal von einem Saufgelage zum nächsten. Nach einer Kneipenschlägerei, an die er sich selbst nur vage erinnern kann, wacht er am Morgen in seiner Wohnung auf; die Knöchel seiner Hand wund, Blutflecke auf der Jeans und einem mächtigen Kater. Noch bevor die Ernüchterung eintritt erhält er die erschütternde Nachricht, dass seine Frau Rakel Fauke tot in ihrem Haus gefunden wurde. Eine Videonachricht, die bei der Polizei eintrifft und Details der Tat zeigt, trägt ganz klar die Handschrift Svein Finnes. Seit Jahren schon wird nach dem stadtbekannten Vergewaltiger gefahndet.

Nach Tagen der Ausnüchterung macht sich Harry Hole auf eigene Faust an die Ermittlung nach dem Mörder. Bald schon scheint er sich zu verstricken, denn nicht nur Finne steht auf der Liste der Verdächtigen. Hilfe erfährt er von seiner ehemaligen Kollegin und Geliebten Kaya Solness, die eben aus dem Kriegsgebiet Afghanistans zurückgekehrt ist.

Ganz nach Agatha-Christie-Manier präsentiert uns der Autor einen potentiellen Täter nach dem anderen. Jeden einzelnen von ihnen beleuchtet er genauestens, erzählt ihre persönliche Geschichte und lässt uns Leser*innen an deren Vergangenheit teilhaben. Mit schon fast philosophischem Gedankengut geschmückt, zieht sich die Story in die Länge und droht vom eigentlichen Fall abzuweichen. Doch redeten wir nicht von Jo Nesbø, fügte sich nicht nahtlos ein Detail ins andere.

Wir erleben in diesem, dem zwölften Fall, einen anderen Harry Hole, einen geläuterten, nachdenklichen und verletzlichen Typen. Traumatisiert von Verlust und Trauer. Dennoch überschreitet der Antiheld Hole wieder einmal die Grenze zum Illegalen und wirft damit Fragen zu moralischem Verhalten auf. Mehr als üblich konfrontiert uns Jo Nesbø mit gesellschaftspolitischen Themen.

Am Ende überrascht der Krimi mit höchster Spannung, die dem Anfang des Buches in nichts nachsteht.

Ebenfalls hier im Blog:
Durst
Koma

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Donnerstag, 4. Juni 2020
Jan Costin Wagner „Sommer bei Nacht“
Jannis ist weg! Eben war der 8jährige Junge noch da. Sie waren beim Flohmarkt, Jannis, seine Mutter und Sarah, die große Schwester. Als sich seine Mutter umdreht, ist Jannis verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Familie Meininger passiert wohl hier das Schlimmste, was man sich als Eltern vorstellen kann.

„Die Zeit hat sich verdichtet. Hat sich reduziert. Im Bruchteil einer Sekunde. Ein weiter Raum ist geschrumpft. Auf ein kleinstmögliches Maß. Auf ein buntes Gemälde, eine Zeichnung, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint.“ (281)

Die Wiesbadener Kriminalpolizei schickt Ben Neven und Christian Sandner nach Biebrich, um sich des Vermisstenfalles anzunehmen. Beide sind äußerst zurückhaltende und stille Charaktere, in Ihrer Arbeit gelten sie als gründlich und gewissenhaft. Lediglich der/die Leser/in erfährt bald, was in beiden Köpfen vor sich geht. Die polizeilichen Befragungen finden direkt am Ort des Geschehens statt. Ein Mitschüler will gesehen haben, wie Jannis, einen riesigen Teddybären im Arm, mit einem Mann gesprochen hat. Alles geht nur sehr schleppend voran, bis in den nächsten Tagen eine Überwachungskamera interessante Bilder für die Polizei liefert. Mit steigender Medienpräsenz nehmen die Ermittlungen an Fahrt auf.

Diese steigende Geschwindigkeit und Spannung ist beim Lesen geradezu greifbar. Es ist zu spüren, dass etwas auf einen Höhepunkt hinausläuft. Das war der Moment, an dem ich das Buch immer wieder weglegen musste, weil das, was vielleicht kommen würde, unerträglich zu sein schien.

Jan Costin Wagner versteht es mit wenigen Worten und ohne es direkt auszusprechen das Grausame und Schreckliche in unseren Köpfen entstehen zu lassen. Das ist seine Kunst. Entgegen dem eigentlichen Krimi-Genre versteht er es, den Fokus nicht unbedingt nur auf den Fall zu legen, sondern auch auf das Innere seiner Figuren, die, einer wie der andere, mit ihren eigenen persönlichen Schicksalen zu kämpfen haben. Der Autor lässt uns all diese Gedanken und Gefühle der Protagonisten miterleben.

Es sind die schmerzlichen Themen Pädophilie und Kindesmissbrauch, deren sich Jan Costin Wagner in diesem Krimi annimmt. Zu sehr an der Realität, als dass man das Lesen als Entspannung betrachten könnte. Ein durch und durch düsteres Buch, dennoch unbedingt lesen!

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Auch hier im Blog rezensiert:

Tage des letzten Schnees
Sakari lernt, durch Wände zu gehen

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