Donnerstag, 3. Mai 2018
Helmut Krausser „Eros“
An einer Stelle des 2006 erschienen Buches lässt Helmut Krausser den Protagonisten seinem Gegenüber die Frage stellen, was in der Liebe erlaubt sei, ob es verwerflich sei, was er getan habe und ob es eine Ethik in der Liebe gebe. Obwohl es in diesem Roman sicher viel mehr zu diskutieren gäbe, verrät der Autor doch schon im Titel, worum es in erster Linie geht. Abgeleitet vom griechischen Gott der Liebe bezeichnet Eros in der Philosophie die Form starken Begehrens und Verlangens; die Leidenschaft oder begeisterte Liebe (lt wp).

Alexander von Brücken ist der Sohn eines Industriemagnaten. Mittlerweile alt und sterbenskrank hält ihn einzig der Gedanke am Leben, seine Geschichte zu erzählen. Dafür lädt er einen erfahrenen Autoren in seine Villa in der Nähe von München ein. Dieser soll einen Roman daraus machen, die richtigen Formulierungen finden und erlaubt ihm überdies, eine Portion Fiktion und eigene Gedanken mit einfließen zu lassen. Zur Veröffentlichung allerdings solle es erst nach dem Tod Alexander von Brückens kommen.

Innerhalb der nächsten acht Tage erzählt der Adelige also seine Lebensgeschichte. Beginnend damit, wie er als Junge im Zweiten Weltkrieg Sophie im Luftschutzbunker kennenlernt. Ihre Eltern sind Arbeiter in der Firma seines Vaters. Nach einem Kuss, für den Sophie von Alexander 30 Mark verlangt, ist es um den Jungen geschehen. Er hat sich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt. Doch schon bald sind es tragische Umstände, die beide voneinander trennen und aus einer unschuldigen Liebe entspinnt sich für den jungen Alexander von Brücken eine Obsession. Da sich der Wunsch, Sophie möge zu ihm zurückkehren, nicht erfüllt, benutzt er Geld und Einfluss, um sein „Objekt der Begierde“ wiederzufinden. Behilflich dabei ist ihm sein treuer Angestellter und Freund Lukian Keferloher. Zu erfahren, dass sie ein eigenes Leben führt, ihn nach Jahren noch nicht einmal mehr wiedererkennt, lässt seinen Liebeswahn ins Unermessliche wachsen. Fortan beschließt er, in jeder Zeit seines Lebens genau darüber im Bilde zu sein, wo Sophie sich befindet und wie es ihr geht. Ja, er greift sogar in ihr Leben ein. Unter dem Deckmantel des guten Samariters lauert Egozentrik, Machtgier, aber auch Einsamkeit und Elegie.

Ohne den genaueren Begebenheiten vorzugreifen, kann ich doch sagen, dass uns diese Geschichte durch die letzten 60 Jahre des 20. Jahrhunderts führt. Nachkriegszeit, wirtschaftlicher Aufschwung in Deutschland, Gründung der DDR, erste Protestbewegungen bis hin zu terroristischen Aktivitäten und der allgemeine Wunsch nach Selbstverwirklichung dienen Helmut Krausser als Kulisse. Im Vordergrund drei Figuren, die ihre Möglichkeiten nicht oder falsch zu nutzen wissen. Alexander, der millionenschwere Industrielle, der Macht und Geld dazu verwendet unsichtbare Fäden in der Hand zu halten; Sophie, die sich für Freiheit und Unabhängigkeit entscheidet und letztendlich nicht damit umgehen kann; und Lukian, der sich zeitlebens im für ihn sicheren Schatten Alexanders bewegt.

Das herausragende an diesem sehr spannenden Roman ist für mich nicht nur die fantastische, poetische und gehobenen Sprache (eloquent wäre wohl der richtige Ausdruck), sondern ebenso die Vielzahl der Perspektiven und Quellen. Der Text setzt sich aus Fragmenten der beiden Icherzähler, des Schreibenden und seines Auftraggebers Alexander, aus Abhörprotokollen und Tagebucheintragungen zusammen. Ein auktorialer Erzähler vervollständigt das Ganze.

Die Charaktere sind auf den ersten Blick keinesfalls Sympathieträger. Fällt es auch manchmal schwer, ihr Verhalten nachzuvollziehen, so habe ich zu allen doch am Ende eine gewisse Zuneigung entwickelt, und war schließlich fähig (ich hoffe das spricht jetzt nicht gegen mich) deren Handlungsweisen und Entscheidungen zu verstehen. Denn letztendlich sollte uns allen doch nichts Menschliches fremd sein!


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