Donnerstag, 26. April 2018
Virginia Reeves „Ein anderes Leben als dieses“
Alabama in den 20er Jahren

Es gab eine Zeit, da waren sie glücklich, Roscoe T. Martin und seine Frau Marie. Da führten sie lange Gespräche über Pflanzen und Vögel. Nach ausgedehnten Spaziergängen lasen sie gerne in ihren Büchern oder tanzten umschlungen im Wohnzimmer.

„Hast du schon mal so tolle Musik gehört?“ Zu diesem Lied waren wir durch das Zimmer getanzt, und sie hatte den Kopf an meine Brust gelegt, wie sich das gehört. „Es heißt ‚The World is waiting for the Sunrise‘ „ erklärte sie. „Kannst du die Sehnsucht hören?“ „Ja.“ Ich kann sie hören. (Seite 298)

Später wird Roscoe T. Martin die Sehnsucht nicht nur hören können, sondern tief in seinem Inneren spüren. Aber dazu später mehr.

Zu Beginn des Romans steckt die Ehe bereits in der Krise. Roscoe hätte lieber, seiner Passion folgend, die Anstellung als Elektriker in der Stadt behalten. Stattdessen soll er die Farm seiner verstorbenen Schwiegereltern bewirtschaften. Marie hält ihren Mann für faul und unfähig und widmet sich ganz dem gemeinsamen Sohn. Alle Bemühungen, die Farm rentabel zu machen, scheitern. Dann kommt Roscoe die zündende Idee: mit dem schwarzen Hilfsarbeiter Wilson, der mit seiner Familie das kleine Haus am Rande der Felder bewohnt, zapft er die Stromleitungen der Alabama Power Company an und versorgt so die Farm mit Strom; illegal natürlich. Voll elektrifiziert gelingt der wirtschaftliche Aufschwung, der beiden Familien zu einem besseren Leben verhilft. Für eine kurze Zeit sieht es aus, als seien alle Probleme der Vergangenheit vergessen. Und dann stirbt ein junger Elektriker an den Folgen eines Stromschlags. Der Verantwortliche ist schnell gefunden. Roscoe T. Martin wird des Mordes beschuldigt, verurteilt und in ein Gefängnis überstellt. Für Wilson allerdings gelten andere Gesetze. Er wird als Arbeiter an eine Kohlemine verkauft.

Roscoes Vergehen hat indes weit reichende Folgen für beide Familien und führt zu tiefem Leid eines jeden einzelnen von ihnen. Die beiden Frauen bleiben nun für viele Jahre mit ihren Kindern alleine, Marie plagt sich mit schweren Schuldgefühlen, von Wilson selbst fehlt nach der Verhandlung jede Spur und Roscoe T. Martin droht an der Sehnsucht nach seiner Familie und der Ungewissheit, was mit seinem Freund geschehen ist, zu zerbrechen.

Ein beeindruckender Südstaatenroman. Bei aller Dramatik ist der texanischen Autorin Virginia Reeves ein ruhiger unaufgeregter Roman mit leisen Tönen gelungen, den wohl kaum jemanden unberührt lassen wird. Mit gefühlvoller, teils melancholischer Stimme erzählt sie die Geschichte und lässt den Protagonisten in längeren Passagen vom Leben in Gefangenschaft ausführlich berichten. Wir erleben die Zeit im Gefängnis hautnah mit und teilen Gedanken und Gefühle des Verurteilten. Erlaubt man sich tief in die Geschichte hinein gleiten zu lassen, wird man nicht nur mit deutlichen Bildern vor dem inneren Auge belohnt. Man spürt geradezu die flirrende Hitze Alabamas, schmeckt den Staub der Wege, die die Felder säumen, meint das Knistern der ersten elektrischen Leitungen zu hören und atmet aber auch die stickige Luft in einer kargen Zelle.

Ich ließ mich entführen in ein Land, dessen Gesetze mir wohl immer unverständlich bleiben werden, hat es doch lange an der Rassentrennung festgehalten und vollstreckt bis heute die Todesstrafe. Ich war mitgenommen in eine Zeit, die weit vor meiner liegt, in ein Leben, das durch harte Arbeit und höchste soziale Ungerechtigkeit geprägt ist. Zurückgekommen, bin ich dankbar im Hier und Jetzt zu sein und brauche eine Weile, bis ich für das nächste Buch bereit bin.

Ein weiteres großartiges Debüt in diesem Frühjahr!



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