Freitag, 15. Juni 2018
Håkan Nesser „Der Fall Kallmann“
Leon Berger bricht alle Zelte in Stockholm ab und zieht in die nordschwedische Kleinstadt K. Nach dem Tod von Frau und Kind braucht er einen Neuanfang und ist froh, dass ihn eine alte Bekannte als Schwedischlehrer an die Gesamtschule in K holt. In der Hoffnung, mit dem räumlichen Abstand auch etwas Ruhe in seinen schwermütigen Geist zu bekommen, stürzt er sich in die Arbeit. Leicht hat er es zunächst nicht, ist er doch der Nachfolger des sehr beliebten Lehrers Eugen Kallmann. Der scheint einen ganz besonderen Ruf bei Kollegen und Schülern zu genießen. In der Schreibtischschublade in seinem Büro findet Leon Tagebücher seines Vorgängers. Aus reiner Neugier beginnt er darin zu lesen. Schon bald ist er so gefesselt vom Inhalt, dass er unbedingt mehr über das Leben des älteren Mannes wissen möchte und über sein Sterben. Denn Eugen Kallmann wurde vor einigen Wochen tot in einem leer stehenden Haus im Ort aufgefunden.

Zunächst zögerlich und voller Scham, weil er in fremder Leute Tagebücher schnüffelt, vertraut sich Leon seiner Bekannten Ludmilla und einem anderen Kollegen an. Diese wissen nicht viel über Kallmann zu erzählen, sind sich aber einig, dass er es mit der Wahrheit nicht so genau genommen und oft in Rätseln gesprochen habe. Man ist sich nicht sicher, ob er nicht hier und da auch fiktive Fragmente beim Schreiben untergebracht haben könnte. Schließlich habe er bereits zwei Romane veröffentlicht. Geradezu besessen von diesen rätselhaften Tagebüchern, vertiefen sich die drei also in Kallmanns Leben und stoßen auf eine weit zurückreichende, verwirrende Geschichte. Auch zwei Schüler, Andrea und Charlie, scheinen irgendwie in alles verwickelt zu sein. Aber in was genau eigentlich, das ist hier die große Frage? Dann geschieht ein Mord.

Alle beteiligten Personen erzählen ihre individuelle Geschichte, „des Falls Kallmann“. Erzählen von sich selbst, aus ihrem Leben, was sie von dem talentierten, etwas zurückhaltenden Lehrer hielten und was sie mit ihm verband.

Håkan Nesser ist für mich ein Meister seines Faches. Er hat die Gabe, sich in jede seiner Figuren derart gut hinein zu versetzen, dass wir sie überaus authentisch und glaubwürdig erleben. Das gelingt ihm bei einem 15-jährigen Mädchen ebenso gut wie dem 80-jährigen Greis, einem Mörder oder der Angehörigen eines Opfers. Eine besondere Begabung ist außerdem, den Leser stets ein bisschen hinzuhalten, auf die Folter zu spannen, ihn in die Irre zu führen und lange im Unklaren über das Geschehen zu lassen. Dann kann es vorkommen, dass ich ungeduldig werde, und wenn ich gerade anfange, etwas gereizt darauf zu reagieren, kommt er mit irgendeinem Detail um die Ecke, das mich dann sofort wieder versöhnt; ein kleiner Puzzelstein etwa, manchmal nur ein einziger Satz, eine Bemerkung, ein Gedanke, der mich fasziniert.

Der Autor lässt hier und da einen humorvollen, fast zynischer Blick auf die Welt erkennen, versäumt es aber auch nicht, auf Missstände jeglicher Art in der Gesellschaft hinzuweisen, macht dadurch seinen eigenen Standpunkt deutlich.

„Ich würde mir wünschen irgendwann in meinem Leben an einem Ort leben zu dürfen, an dem ein Mensch aufgrund seiner tatsächlichen Qualitäten und Charakterzüge beurteilt wird, und nicht aufgrund seiner Herkunft. In einer Gesellschaft ohne Angst vor Fremden, ohne wir-und-sie. (Seite 341)

Håkan Nesser hat’s einfach drauf!


Weiteres vom Autor hier im Blog:

Die Lebenden und Toten von Winsford Hörbuch
Himmel über London
Am Abend des Mordes


*

... link (0 Kommentare)   ... comment


Besucherzähler Für Homepage