Dienstag, 15. September 2015
Anne Tyler: „Der leuchtend blaue Faden“
Anne Tyler‘s neues Buch ist die Chronik der Familie Whitshank, aber auch die ihres Hauses am Stadtrand von Baltimore, das die Familie schon seit Generationen bewohnt.

Red und Abby haben viel erreicht im Leben. Er führt erfolgreich das Bauunternehmen seines Vaters, sie war als Sozialarbeiterin tätig. Fast 70-jährig, die vier erwachsenen Kinder haben ihr eigenes Leben, geht beiden nicht mehr alles so flott von der Hand. Der Alltag wird beschwerlich, Red wird schwerhörig und Abby beginnt sich geistig von der Welt zu verabschieden. Alarmiert vom Zustand ihrer Eltern rufen die Kinder bald einen Familienrat zusammen. Weil Abby sich weigert in eine Seniorenresidenz zu ziehen, zieht bald ihr Sohn Stem mit Frau und Kindern bei Ihnen ein. Es entsteht ein klassischer Generationenkonflikt. Wo die Kinder helfen und unterstützen wollen, fühlen sich die Eltern bald bevormundet, kontrolliert und ihrer Freiheit beraubt. Und so ändert sich schlagartig das unabhängige Leben des Ehepaares in einer Weise, wie sie es nie gewollt haben. Selbst der jüngste Sohn, das schwarze Schaf der Familie, reist an. Bald buhlen alle darum, den Eltern zu helfen. Während Red versucht, sich aus Streitereien herauszuhalten, flieht Abby gedanklich in die Vergangenheit.

Die Autorin erzählt ihre Geschichte nicht chronologisch, sondern geht Stück für Stück rückwärts bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts, als Reds Vater als junger Mann seine Heimat verlässt, um in Baltimore ein neues Leben zu beginnen. Auch hier beginnt die Geschichte des Hauses mit der „großen schattigen Veranda“.

Anne Tyler beschreibt eine ganz normale Familie und das mit viel Empathie und Sensibilität für jeden einzelnen Charakter. In jedem ihrer Sätze scheint ihre eigene Lebenserfahrung greifbar zu sein. Sie lässt den Leser grübeln über die wichtigen Dinge. Was bleibt von einem Leben, einen Menschen, einem Haus? Was und wie viel geben wir an die nächste Generation weiter? Und ist es nicht wichtig, sich der Vergangenheit der Eltern und Großeltern bewusst zu werden?

“Verschwendete denn nie jemand einen Gedanken daran, dass die sogenannten Alten von heute früher Marihuana rauchten, Herrgott noch mal, und sich Tücher um den Kopf banden und vor dem Weißen Haus demonstrierten?“ (Zitat Seite 212)

Der Leser taucht ein in das Leben anderer Leute, das genauso gut das eigene sein könnte. In eine Familiensituation, wie sie fast jeder kennt oder früher oder später erleben wird. Nicht, dass viel passieren würde in diesem Roman; dennoch war ich traurig, als er gelesen war und hätte gerne noch mal von vorn begonnen.

Ein Buch zum Nachdenken, Entspannen und Sich-mitreißen-lassen!

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