Samstag, 3. Oktober 2020
Gerhard Jäger „All die Nacht über uns“
„Und ein Schritt ist ein Schritt, er folgt der Zeit, durchschreitet den Raum, nirgends bleiben, nirgends stehen, nirgends Stillstand, ein ständiges Gehen, oder sollte er sagen ein ständiges weggehen? […] weg von inneren Bildern, die uns verfolgen und quälen, von den eigenen Wünschen, die sich nicht erfüllen lassen, weg von den eigenen Fehlern, die uns die Scham ins Gesicht treiben. Vielleicht sind wir alle ständig auf der Flucht […]“ (Seite 82).

Um eben dieses Thema, Flucht, geht es in Gerhard Jägers zweiten und letzten Roman. Und nicht nur die fremdländischen Flüchtlinge sind gemeint, die der Protagonist, ein Soldat ohne Namen, von seinem Turm aus an einer unbestimmten Landesgrenze abzuwehren versucht. Zur Not auch mit Waffengewalt, so der Befehl. Auch geht es um eine Flucht in der Vergangenheit, über die der Soldat in den Stunden der Wacht in den Aufzeichnungen seiner Großmutter liest. Nicht zuletzt, um sein eigenes Fliehen vor sich selbst, dem Leben und seinen Erinnerungen. Erinnerungen an schöne Zeiten, fröhliche Zeiten, seine große Liebe, aber auch an alles, was danach geschehen war. Noch immer halten den Soldaten auch die fremdländischen Augen innerlich gefangen, denen er bei kurzem Verlassen seines Wachturms begegnet war. Letztendlich ist er nicht nur Wind, Regen und Kälte ausgesetzt, sondern auch seinen Erinnerungen, Gefühlen und seiner Schuld. Und so fügen sich in dieser einen einsamen Nacht, die der Autor beschreibt, die Schicksale der Flüchtenden zusammen.

Durch Vermeidung jeglicher Namensgebung für Figuren und Ort schafft Gerhard Jäger ein universelles Bild der Handlung. Es könnte sich um irgendeinen Soldaten handeln, der Wachturm an jeder x-beliebigen Grenze stehen. Auch die Nacht könnte eine von vielen Nächten sein und doch spürt man die Verbindung zu Person, Ort und Zeit.

Der Autor hat die Gabe, Emotionen direkt und ohne Umschweife zu transportieren. Mit seiner außerordentliche Sprachgewalt und seinem Stil des Schreibens lässt er uns Leser*innen keine Zeit zum Durchatmen, keinen Raum für Oberflächlichkeiten. Die Kost ist eine Schwere, nicht einfach zu verdauen. So setzt er in seiner Geschichte einem noch so kleinen Quäntchen des Glücklichseins das Zehnfache an Melancholie und Tragik entgegen.

Ich selbst, obwohl dramatischen Romanen nicht abgeneigt, bin hier an meine persönliche emotionale Grenze des Erträglichen geraten. Am Ende ist es wohl eine Sache der Persönlichkeit, ob und wie weit man sich einlässt. Dennoch hätte ich um nichts in der Welt auf diesen ausdrucksstarken Roman verzichten wollen.


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