Montag, 17. September 2018
Bodo Kirchhoff „Dämmer und Aufruhr: Roman der frühen Jahre“
In einem kleinen Hotel in Italien mietet sich der Autor Bodo Kirchhoff für eine Zeit ein, im Gepäck seine Schreibutensilien und Fotos, um Erinnerungen an seine Kindheit und seine Familie niederzuschreiben. Hier scheint er seinen Eltern und den „frühen Jahren“ seines Lebens am nächsten zu sein. Denn hier haben seine Eltern ihre letzten glücklichen Tage vor ihrer Trennung verbracht. So richtet er sich auf dem kleinen Balkon ein und beginnt seine Lebensgeschichte zu schreiben.

Als Kind der Nachkriegsgeneration wächst er in den 1950 er Jahren in Hamburg auf. Die Eltern mehrheitlich mit sich selbst beschäftigt, die Mutter strebt eine Karriere als Schauspielerin an, der Vater versucht sein eigenes Geschäft aufzubauen, bleibt wenig Zeit für den Sohn und dessen Belange. Der will sich nicht recht einfinden in das Leben, in die Gesellschaft, in die Schule und sucht immer wieder die Nähe zur Mutter. Immer öfter gibt die ihn jedoch nach der Schule in die Obhut der Großmutter. Der Junge, offensichtlich emotional von den Eltern vernachlässigt, findet dann aber Halt bei der fürsorglichen Oma, die schnell zur engsten Vertrauensperson wird. Im Alter von elf Jahren schickt man ihn in ein katholisches Internat, in der Hoffnung, ihm hier den Boden für seine Zukunft ebnen zu können.

Und wieder sucht der mittlerweile Heranwachsende nach Nähe und Halt und orientiert sich an Älteren und Stärkeren. Dann nimmt sich der Kantor, Sport- und Musiklehrer, sich des Jungen an; beginnt ihn zu fördern und verbringt ungewöhnlich viel Zeit mit ihm. Der Schüler genießt die Aufmerksamkeit, doch schon bald kommt es zu sexuellen Übergriffen, die von dem jungen Menschen kaum verstanden werden können und die mit Liebe und Zuneigung verwechselt werden. Es beginnt eine Zeit der jahrelangen emotionalen Abhängigkeit.

Und obwohl das sicherlich das einschneide Erlebnis im Leben des Autors bleibt, rückt er es nicht in den Mittelpunkt seines autobiografischen Romans. Er erzählt frei und ungeschönt von den schlechten aber auch den guten Zeiten, manchmal unsicher, ob sich alles genauso zugetragen hat. Erinnert sich anhand alter Fotos, die er so genau und einfühlsam beschreibt, dass der Leser glaubt, eben dieses Schwarzweiß Foto mit welliger weißer Umrandung in Händen zu halten. Bis zum Tod der Mutter lässt uns Bodo Kirchhoff an seinem Leben teilhaben, an Kindheit, Jugend und die wilde Zeit der 1960 er Jahre, in denen persönlicher und politischer Aufruhr an der Tagesordnung waren. Er lässt uns ganz nah heran und bleibt doch sprachlich oft auf Abstand. So verwendet er zum Beispiel selten das Wort “ich“, sondern spricht über sich selbst in der dritten Person. Seine Sätze sind trotz schmerzlichen Inhalts poetisch und teilweise zu schön, um sie nur ein einziges Mal zu lesen.

Der Autor klagt nicht an, übt keine Rache oder rechnet gar mit Tätern ab; auch an Mitleid scheint ihm nicht gelegen. Am Anfang dachte ich noch zu schreiben “der Autor gibt allen Opfern eine Stimme“, das stimmt jedoch nicht, er bleibt ganz bei sich, ist nur seine eigene Stimme, macht aber auch dadurch aufmerksam auf schreckliche Umstände. Zeigt, wie er selbst mit Schmerz, Sehnsucht und eigenen Irrwegen zu sich selbst gefunden hat. Das Zu-sich-kommen im Schreiben sozusagen, am Ende sogar ein Mit-sich-im-Reinen-sein.

Für mich ist Bodo Kirchhoff ein ganz großer Schriftsteller, der mich mit seiner Art des Erzählens, seinem Tiefgang immer bis ins Mark trifft.

Mehr vom Autor hier im Blog
Widerfahrnis
Verlangen und Melancholie
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