Freitag, 23. Juni 2017
Schneetränentage
Es schneite zum ersten Mal in diesem Winter. Wie jeden Morgen um diese Zeit saß Lotte an ihrem Küchentisch und schaute zum Fenster hinaus. Winzige Kristalle segelten vom Himmel herab, kleinen Papierschnipseln gleich, vom Wind getragen. Sie nahmen nicht den schnellsten Weg zum Boden, und unten angekommen, schmolzen sie auch schon wieder. Die Erde war noch nicht kalt genug, um das weiße Nass aufzunehmen. Dass sie weinte, wie jedes Jahr beim ersten Schnee, merkte sie erst, als ihre Hände, die sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte, feucht wurden. Und wie immer mit stärker werdendem Schneefall versiegten gleichermaßen die Tränen.

Ihr ganzes Leben lang, über 80 Jahre, lebte sie in diesem Haus. Doch das würde bald ein Ende haben, denn ihre Tochter hatte sie bereits für einen Platz in einer Seniorenwohngemeinschaft angemeldet. So nannte man das heute: Wohngemeinschaft, Betreutes Wohnen. Für sie war es ein Altenheim, da biss die Maus keinen Faden ab. Lange war es her, da hatte sie mit ihren eigenen Eltern hier in diese Küche gesessen und ihrem Bruder Bert, der so viele Jahre älter war als sie. Ihre Mutter, eine kleine schmächtige Frau, hatte zwei Fehlgeburten erlitten, was in diesen Jahren nicht ungewöhnlich war. Dann, 18 Jahre nach dem ersten Sohn, kam Lotte zur Welt. Sie schaute immer auf zu ihrem großen Bruder, der, als sie selbst gerade zwölf Jahre alt war, in den Krieg zog. Bei seinen Heimatsurlauben stand dann ein groß gewachsener, in Uniform adrett aussehender junger Mann in der Tür, den sie kaum als ihren Bruder erkannte. Jedes Mal sah er ein wenig hagerer aus und lief nach seiner Ankunft sofort die Treppe hinauf, wo er sich mit seiner Frau Emma ein eigenes kleines Reich geschaffen hatte.

Aber wo war sie mit ihren Gedanken? Beim Blick auf die Küchenuhr erschrak Lotte ein wenig, denn es war schon weit nach elf, längst Zeit für die Zubereitung eines kleinen Mittagessens. Bei diesem Gedanken schüttelte sie lächelnd den Kopf. Früher hatte sie ihre Schwägerin Emma immer dafür ausgelacht, dass diese schon vor zwölf zu Mittag aß. Doch seit ihr eigener Mann vor einigen Jahren verstorben war, hielt sie es ebenso, nicht ohne jedes Mal an die Frau ihres Bruders zu denken. Für heute mussten eine leichte Suppe aus der Tüte und ein Toastbrot genügen. Das Kochen wie auch die anderen Hausarbeiten gingen ihr nicht mehr so gut von der Hand, aber sie kam schon zurecht, so dachte sie jedenfalls. Später am Nachmittag war sie, wie jeden Tag seit Jahren, indem es das Wetter zuließ, mit ihrer Freundin zu einem Spaziergang verabredet.

Als sie sich zum Essen zurück an den Tisch gesetzt hatte, das Schneien hatte bereits wieder nachgelassen, gingen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Es waren keine harmonischen Essen gewesen, die sie alle gemeinsam hier verbracht hatten. Sie konnte sich erinnern, dass ihre Mutter schon bei Ankündigung des Urlaubs ihres Sohnes, Angst verspürt hatte. Sie hatte geahnt, was auf sie zukommen würde. Jedes Mal kam es zum Streit zwischen Vater und Sohn. Zwei Sturköpfe, deren politische Meinung nicht unterschiedliche hätte sein können, trafen aufeinander. Lotte selbst verstand wenig davon, aber heute wusste sie, dass der Eine, der Bruder, ein großer Anhänger des Führers geworden war und der Andere, der Vater, sich stets geweigert hatte auch nur mit erhobener Hand zu grüßen. Und so gingen die seltenen Besuche, auf die sich Lotte so sehr gefreut hatte, immer im Zorn zu Ende. Lediglich sie selbst und ihre Mutter standen zum Abschied an der Straße und weinten. Die Eltern jedoch sprachen noch Tage danach kein Wort miteinander.

Lottes Leben war trist geworden; bestand nur aus den immer gleichen Ritualen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die gewonnene Freiheit genossen und war noch im reifen Alter zum Kegeln, zum regelmäßigen Sport und zu treffen mit ihren Freundinnen gegangen. Vieles ging heute nicht mehr und sie begann immer mehr Dinge zu vergessen. Im selben Maße nahm die Erinnerung an die weit entfernte Kindheit zu.

Es war ein Tag im Januar, da kam Lotte aus der Schule und fand ihre Mutter zusammengesunken am Tisch. Ein Brief in der Hand, der mitteilte, dass ihr Sohn als vermisst galt. Für Lotte begann eine schreckliche Zeit, in der ihre Mutter sie mehr oder minder ignorierte und ihr Vater mit jedem Tag ein wenig mehr in sich zusammensank. Auf die Frage nach ihrem Bruder bekam sie stets die gleiche Antwort. Es sei in Russland vermisst. Russland sei da, wo es immer sehr kalt sei und schneie. Dieses Bild hatte Lotte seit jeher immer vor Augen: ihr Bruder frierend im Schnee.

Als sie von ihrem Spaziergang an diesem Tag zurückkam, auch jetzt war ein kalter Wind, aber der Schnee hatte sich verzogen, war ihre Tochter schon im Haus und es roch in der Küche nach frischem Kaffee. Man hatte eine Zusage bekommen, ein Zimmer war frei geworden, für sie, Lotte, im Altersheim. Das sollte also der letzte Tag in ihrem Elternhaus gewesen sein. Da wusste sie nicht, dass bald, nach ihrem eigenen Tod, ihre Tochter diejenige sein würde, die in jedem Jahr beim ersten Schnee des herannahenden Winters weinen würde.

AlleRechteandiesemTextbleibenbeiderAutorin

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