Montag, 11. März 2019
Jocelyne Saucier „Niemals ohne sie“
[…] der Geruch nach warmem Gras, die kühle Brise aus dem Wald, die über die grausamsten Details unserer Vergangenheit streicht, […]. Ich lasse die Bilder auf mich einstürmen, halte die stärksten fest, […] lasse mich ersticken, erdolchen, aufschlitzen, massakrieren, vernichten, und wenn ich tot bin, wenn ich nichts mehr spüre außer den Boden dieses abgrundtiefen Lochs aus Schmerz, fahre ich weiter […]. (Seite 204)

Mehr als 30 Jahre haben sich die Mitglieder der Familie Cardinal nicht mehr gesehen. Jetzt, 1995, treffen sie sich in einem Luxushotel zu einem Kongress. Dem Vater soll, über 80-jährig, eine Auszeichnung zum besten Erzsucher zuteilwerden. Schon im Foyer begegnen sich die 21 Geschwister; die Wiedersehensfreude scheint sich jedoch in Grenzen zu halten, keiner kann dem anderen in die Augen schauen und schnell stieben sie auseinander. Denn sie verbergen ein Geheimnis, das wie ein Schatten über der Familie liegt.

An dieser Stelle könnte ich ausführlich die offensichtlichen Fakten des Inhalts beschreiben: Familie lebt in heruntergekommenem Haus im kleinen Ort Norco; Vater hatte Zinnvorkommen entdeckt, dadurch Hoffnung auf Wohlstand; daraus wurde nichts; Minen wurden bald wieder geschlossen; viele Bewohner des Ortes verloren ihre Existenz; geblieben waren Frust und unbändige Wut. Das alles aber ist Kulisse und Voraussetzung für das, um was es in diesem Roman eigentlich geht. Denn die wahre Geschichte liegt dazwischen, unter der Oberfläche. Dazu später mehr.

Der Vater der Familie verbrachte seine Zeit im Wald mit der Erzsuche oder im Keller, in dem er seine Gesteinsproben katalogisierte, die Mutter stand in der Küche, um ihre Lieben mit Essen zu versorgen und zog sich abends auf ihr Zimmer zurück. Die Kinder waren meistens auf sich gestellt und verbrachten die Tage mit gewaltsamen Straßenkämpfen, Brandstiftungen und kleine Sprengungen mit Dynamit. Ihren Alltag zu Hause regelten sie mithilfe einer strengen Hackordnung unter den Geschwistern. Das führte zu zusätzlichem Streit und Unfrieden. Besonders war es Angele, die mit ihrer Art den Neid und Spott der anderen auf sich zog. Denn Angele war anders, klüger, besonnener, friedfertig. Sie wollte glücklich sein und sehnte sich nach einem besseren Leben. Als ihr ein reiches Ehepaar eine Ausbildung in einer Klosterschule ermöglichte, drohte sie vollends ins Aus der Familie zu geraten. Immer öfter war sie nun den Schikanen der älteren Geschwister ausgesetzt.

Die kanadische Schriftstellerin Jocelyne Saucier hat hier meiner Meinung nach einen ganz großen Roman in atemberaubender Sprache geschrieben. Das ungewöhnliche Setting, die vielfältigen Charaktere in dieser speziellen Familienstruktur und letztendlich die emotionale und herausragende Geschichte sind ein besonderes Leseerlebnis. Der Kern und die Bedeutung liegen tiefer, als zunächst zu erwarten. Es geht um die Sozialisation der Figuren, um die Interaktion zwischen Dorfbewohnern und den Mitglieder der Familie einerseits und der Beziehungsgeflecht zwischen den Geschwistern der Cardinals auf der anderen Seite.

Die Autorin lässt etwa eine Handvoll der im Mittelpunkt stehenden Kinder aus eigener Sicht erzählen. Sie versieht jeden dieser Figuren mit eigenem Tonfall und Wesensart. Sehr einfühlsam bereitet sie den Leser Kapitel für Kapitel auf ein tragisches Erlebnis vor, dass zu Beginn des Buches lediglich als dunkle Ahnung zu spüren ist. Eine Weile braucht es, um sich lesend den Begebenheiten anzupassen, dann aber wird man mitgerissen von der Spannung und der Einzigartigkeit. Die Autorin verlangt dem Leser emotional einiges ab und lässt ihn fast bis zum Schluss im Unklaren über das Geschehen, dass das zukünftige Leben aller Familienmitglieder verändern sollte.

Ein Buch, das man verkraften muss, das aber auch den eigenen Horizont erweitert und nach dessen Ende man nicht einfach ein anderes beginnt. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass dieser Roman zum Besten gehört, das ich seit Langem gelesen habe!


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