Freitag, 11. August 2017
Wiener und das Schnitzel
Die Blätter hatten sich bereits verfärbt. Alles leuchtete in Gelb- und Rottönen. Tautropfen flatterten in der Luft wie kleine Mücken in der Abenddämmerung. Dicker Nebel, der noch vor einer Stunde geherrscht hatte, war den Sonnenstrahlen gewichen, die jetzt durch die Baumkronen blitzten. Der Waldboden war von der Nacht noch nass und matschig. Ich hielt meinen Blick nach oben gerichtet, weg von der Leiche, die vor meinen Füssen lag. Ein junger Mann, auf dem Bauch liegend, Arme und Beine von sich gestreckt wie ein Ertrunkener im Wasser. Ich atmete noch einmal tief die frische Luft, bevor ich mich meinem ersten richtigen „Fall“ widmete. Meiner ersten Leiche. Morgen erst sollte mein Dienst im Polizeipräsidium offiziell beginnen. Weil aber mein zukünftiger Chef, Herr Schnitzler, nicht zu erreichen war, hatte man die neue Kommissarin angerufen.
Einige Meter entfernt auf einem Baumstumpf saß ein Mann in mittlerem Alter, den Kopf in die auf den Oberschenkeln ruhenden Arme gestützt. Sein graues Haar war schon licht geworden und hier und da lugte neugierig die blasse Kopfhaut hervor. Seine Frau war beim Auffinden des mit Messerstichen übersäten Mannes einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie war von Sanitätern schon vor einigen Minuten ins Krankenhaus gebracht worden. Herrn Berlinger hatte ich gebeten, sich trotz allem noch zu meiner Verfügung zu halten, bis ich seine genaue Zeugenaussage aufgenommen hatte. Streifenpolizist Gerber bot mir natürlich an, dies für mich zu übernehmen, aber ich wollte alles richtig und perfekt machen, die Lage im Griff haben, bevor ich Hauptkommissar Schnitzler über den Vorfall in Kenntnis setzen würde.
Innerhalb kürzester Zeit war der ganze Tatort abgesperrt, es wimmelte von Mitarbeitern, von denen ich keinen kannte. Der Gerichtsmediziner im weißen Überzug schob mich grob beiseite, Leute von der Spurensicherung drängten, ich möge nicht auch noch die letzten Spuren mit meinen Gummistiefeln zerstören. Einen letzten Blick auf das Opfer ergatterte ich erst, als man es wegbrachte. Gerber und seine Kollegin waren ebenfalls im Begriff zu gehen, als sich Gerber nochmal umdrehte und mich grinsend fragte: „Wirst du bitte das Schnitzel noch von all dem unterrichten?“ Dabei wedelte er mit seinem rechten Zeigefinger hin und her. „Das Schnitzel?“ musste ich etwas dümmlich gefragt haben, denn er lachte aus vollem Halse. Ach ja, der neue Chef, Schnitzler, genannt „das Schnitzel“, war gemeint. Was in Anbetracht meines eigenen Nachnamens natürlich im Präsidium für so manchen Lacher sorgen würde. „Ja, ja, witzig, Gerber!“ gab ich zurück und konnte sein dämliches, süffisante Lächeln noch im Nacken spüren als sie schon den Weg zum Auto eingeschlagen hatten. „Bis morgen also, Frau Wiener“ konnte er sich nicht verkneifen zu rufen. Idiot! dachte ich. Wir kannten uns noch von der Streife. Schon dort wurde ich für meinen Ehrgeiz, der oft keine Grenzen fand, von Kollegen belächelt, aber, ihr werdet schon noch sehen, freute ich mich insgeheim. Ich war drin, mittendrin in meinem ersten Fall und hoffte, dass alles gutgehen würde. Das alles so kam, wie ich mir das dachte. Meine Beine hatten zwar zu zittern begonnen, aber ich sah mich im Geiste Anlauf nehmen, auf die Knie rutschen und mit der rechten Hand eine Sägebewegung andeuten, wie ich es so oft bei Torjublern im Fernsehen gesehen hatte. „Junge Kommissarin löst ersten Fall!“ Jetzt musste ich nur noch den neuen Chef überzeugen. Angeblich erst seit einer Woche im Amt. Ein harter Hund soll er sein, das hatte man sich unter den Uniformierten geflüstert.
Es war still geworden am Tatort. Lediglich mein einziger Zeuge saß noch wie zuvor auf seinem Baumstumpf, als sei er eingeschlafen. Den Korb mit frisch gesammelten Pilzen und dem dazugehörigen Messer neben sich stehend. Ich setzte mich an Herrn Berlingers Seite. atmete noch einmal die frische Luft, zog meinen Notizblock aus der Tasche und nahm meinen Kugelschreiber mit der Aufschrift „Erfolgreich im Beruf“ zur Hand. Zu meiner Überraschung sagte der Mann kein Wort, hob noch nicht einmal den Kopf, sondern wand sich etwas von mir ab. Seine Schultern bebten leicht, als weinte er. In Psychologie hatte ich ausgezeichnet abgeschnitten, also legte ich leicht meine Hand auf seinen Rücken und flüsterte: „Ich sage Ihnen jetzt mal, wie es passiert ist.“ Der Zeuge nickte stumm und das tat er weiterhin nach jedem Satz, den ich sprach. Als wir geendet hatten, sah er mich das erste Mal an und schien erleichtert. Voller Eifer hatte ich meinen Block vollgekritzelt, Herrn Berlinger über seine Rechte aufgeklärt und bat ihn, mich ins Revier zu begleiten. Unterwegs würde ich „dem Schnitzel“, bei diesem Gedanke musste ich jetzt doch etwas lächeln, Bericht erstatten. Er würde stolz auf mich sein und ich hätte allen bewiesen, was ich drauf hatte. Meinen Ex-Kollegen würden die Kinnladen entgleiten. Tja, man sollte besser niemanden unterschätzen; und eine Annika Wiener schon mal gar nicht. Heute war ich gewachsen, fühlte mich bestätigt und wusste, dass die Plackerei in der Ausbildung nicht umsonst gewesen war. Umsonst war nur der Tod und selbst der kostete das Leben, dachte ich so bei mir und konnte kaum meinen ersten offiziellen Arbeitstag abwarten. Morgen um acht, an meinem 30sten Geburtstag, würden sich endlich meine beruflichen Träume erfüllen. Dank dieses alten, dummen, Pilze suchenden Ehepaares.
Ich musste das Zittern in meiner Stimme beherrschen und rief den Chef an, stellte mich kurz vor und schilderte ihm den Tathergang so gut ich konnte: das Paar beim Pilze sammeln, Frau Berlingers Schrei, der Ehemann rennt zu Hilfe; findet das spätere Opfer gebeugt über seiner liegenden Ehefrau. Im Affekt ersticht er den Angreifer, was die ungewöhnlich vielen Einstichwunden beweisen. Berlinger ist wie in Rage und lässt nur langsam vom bereits Toten ab. Seine Frau bricht unmittelbar zusammen. “Aber ja, die Tatwaffe ist sichergestellt, der Täter unterwegs in Untersuchungshaft, ich werde ihn persönlich im Revier abliefern!“ „Gute Arbeit, Wiener, hervorragend, das sieht nach einer guten Zusammenarbeit aus!“ ruft Schnitzler aus und beendet das Gespräch. „Bis morgen dann“, murmele ich vor mich hin. Ich steuerte den Wagen an den Fahrbahnrand, um mich zu beruhigen. Es war doch gut gelaufen, schalt ich mich. Kriminalhauptkommissarin Wiener. Ich musste es einfach mal laut aussprechen. Die Worte klangen wohlig und hinterließen einen süßen Abgang im Rachen.
Endlich zu Hause fiel ich ins Bett, als hätte ich nächtelang gefeiert und erwachte mit leichten Kopfschmerzen beim ersten Klingeln des Weckers.
Happy Birthday, Annika, summte ich leise vor mich hin, duschte ausgiebig und wand mich in meinen dunkelblauen Hosenanzug. Ich war froh endlich der Uniform abgedankt zu haben. Bei einem letzten Blick in den Spiegel sah ich eine große, schlanke Person, die ihr langes braunes Haar streng zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Ich entschied mich für schwarze Schuhe, nicht zu hoch im Absatz, und für ein leichtes Makeup.
Es war zehn Minuten vor acht, als ich vor der Bürotür stand. Besser, etwas früher da zu sein, dachte ich und zupfte vorm Eintreten meinen Anzug in Form. Ich ließ die Ärmel der weißen Bluse etwas am Jackenärmel hervorlugen, wie ich es in Modezeitschriften gesehen hatte. Jetzt war ich bereit, ich war ruhig, alles war gut. Ein tiefer Atemzug und ich betrat meinen zukünftigen Arbeitsplatz.
Der Raum war gefüllt mit Luftballons und großen Bannern mit der Aufschrift: „Happy Birthday und Herzlich Willkommen im siebten Revier.“
Alle waren sie da: Gerber und einige der früheren Kollegen, Hauptkommissar Schnitzler ließ ein zaghaftes Kopfnicken seinem Handschlag folgen, hinter ihm, lachend, Herr Berlinger und seine „ohnmächtige“ Frau gleich neben dem Gerichtsmediziner. Als ich das „Opfer“ erblickte und sich der junge Mann als mein neuer Mitarbeiter vorstellte, wurde es dunkel um mich und ich sank in dessen Arme.


@lleRechtebleibenbeiderAutorin

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