Donnerstag, 20. August 2020
Giuliano Musio:“ Wirbellos“
Schon als Kind hat Martin das Gefühl, dass sich etwas Dunkles in ihm ausbreitet, etwas Düsteres in ihm wächst. So beschreibt er es für sich selbst. Aber nicht nur das macht ihn anders und zum Einzelgänger. Seine Stimme ist für einen Jungen viel zu hoch, die kleinen Augen liegen ungewöhnlich weit auseinander und er kann nicht Lügen. Er ist auch nicht zur kleinsten Schummelei imstande. Selbst die Eltern wissen es auszunutzen. In der Schule wird er gemoppt und belächelt bis er Oskar kennenlernt. Oskar lügt, dass sich die Balken biegen, erzählt jedem was ihm gerade so einfällt, ist fröhlich und vor allem beliebt und bewundert. Eine ungewöhnliche Freundschaft also, die sich da entwickelt.

Als auch Jahre später sogar Martins Freundin dessen Naivität auszunutzen weiß, beschließt Oskar kurzerhand seinem Freund das Lügen beizubringen. Zögernd erst lässt sich Martin darauf ein. Als Spiel oder Prüfung verpackt, kommt es am Flussufer zu einem verheerenden Zwischenfall, der nicht nur Martins Leben verändern soll.

Das Lügen bis zur Perfektion gelernt, zieht Martin später nach Bern, nimmt eine Stelle in der Zentralsterilisation des Krankenhauses an. Der Umgang mit benutztem chirurgischem Besteck scheint das dunkle Gewächs in ihm noch zu beflügeln. In der Stadt stellt er einer etwas älteren Frau nach und schnell ahnen wir, dass er etwas im Schilde führt. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Wie eine Schnecke ihre Schleimspur zieht Martin eine Spur der emotionalen Verwüstung hinter sich her und droht sich selbst zu verlieren.

Der künstlerischen Freiheit lässt Giuliano Musio wieder einmal freien Lauf, als könne er sich alles erlauben. Und was soll ich sagen: er kann! So holt er etwa das Mittelmeer direkt nach Bern, erzählt von Stränden, einem Hafen und auch einem Ozeaneum. Man vergnügt sich mit Delphin-Watching, Segeltouren und Flanieren auf der Promenade.

In diesem Setting siedelt der Autor seine Geschichte an, in der es an schrägen und skurrilen Figuren nicht mangelt. Kaum ein Autor amüsiert und überrascht mich mit seinen Erfindungen der Charaktere derart wie er. Aber nicht immer muss man sie mögen und selten sympathisiert man mit ihnen. Martin hat mich gehörig auf die Palme gebracht. Ich hätte ihn schütteln mögen, ohrfeigen und habe ihn wegen seines respektlosen Verhaltens geradezu verachtet. Aber ein Quäntchen Mitleid schwang immer mit.

Trotz dieses Sammelsuriums an Absurditäten, hält der Autor an diesem einen roten Faden fest, der uns am Ende nachdenklich macht. Der Kern dieser Geschichte ist ein sehr ernster, sodass einem beim Lesen ab und an das Lachen im Halse stecken bleibt. Genau diese Ambivalenz macht für mich die Bücher von Giuliano Musio so lesenswert.


Ebenfalls hier im Blog rezensiert:
Scheinwerfen
Keinzigartiges Lexikon


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Sonntag, 12. Juli 2020
Gerhard Jäger „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ Hörbuch
Gelesen von Peter Matić und Manuel Rubey

Jahre nach dem Tod seiner Frau macht sich der über 80-jährige John Miller auf die beschwerliche Reise von Amerika nach Europa, um dort einem Geheimnis seines Cousins Max Schreiber auf den Grund zu gehen. Lange schon hatte er seiner Frau Rosalind von dem Verwandten erzählt, der nach einem Verbrechen auf mysteriöse Weise verschwand. Ziel seiner Reise ist Österreich, genauer gesagt Innsbruck.

Dort begibt er sich täglich in das Landesarchiv zur Recherche. Eine freundliche junge Frau nimmt sich seiner an und versorgt ihn mit den gesuchten Unterlagen. An einem für ihn bereitgestellten, ruhigen Platz öffnet er einen Karton, der auf Anfang der 1950er Jahre datiert ist. Darin befinden sich Ermittlungsunterlagen und Polizeiberichte zu einem damaligen Verbrechen und außerdem Aufzeichnungen seines Cousins. John Miller beginnt darin zu lesen.

Der Journalist Max Schreiber reist Anfang der 1950 Jahre in ein kleines Bergdorf in Tirol. Dort nimmt er ein Zimmer in der einzigen Gastwirtschaft am Ort, um für seinen Roman zu recherchieren. Vor vielen Jahrzehnten soll es hier eine Art Hexe mit übersinnlichen Fähigkeiten gegeben haben. Über sie will er schreiben. Im Dorf zunächst belächelt und gemieden, schafft er es allmählich, seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Seine Spurensuche führt ihn immer wieder in andere Richtungen, was seinen Aufenthalt verlängert. Denn jeder der Befragten weiß etwas anderes zu berichten. Als ein großer Schneesturm über Tirol hereinbricht, und das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten ist, kämpft er Seite an Seite mit den Menschen gegen die weißen Massen. Doch dann wird eine Tote im Schnee gefunden und Schreiber verschwindet spurlos.

In seinem Romandebüt erzählt Gerhard Jäger quasi eine Geschichte in der Geschichte. Dementsprechend wechseln Ort- und Zeitperspektiven. Parallel zur Geschichte Schreibers, entwickeln sich für uns Leser*innen nach und nach Einzelheiten aus John Millers Leben. Der Autor bleibt ganz dich bei seinen Figuren, schaut emphatisch in sie hinein, beschreibt das Setting in all seinen Einzelheiten und erzeugt damit eine unglaubliche Atmosphäre. Eine Düsternis, die mit Händen zu greifen scheint. Sprachlich ausgefeilt und hervorragend vorgetragen von Peter Matić und Manuel Rubey. An beider Leseart, langsam, bedacht und treffend betont, musste ich mich zunächst gewöhnen. Nach kurzer Zeit aber schon war ich fasziniert. Sie hauchen den Figuren eine enorme Tiefgründigkeit ein, geben dem genialen Text eine schwermütige Aura und dem Buch den letzten Schliff.

Seit langem das beste Hörbuch, das ich auf den Ohren hatte. Höchste Empfehlungsstufe!


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Sonntag, 21. Juni 2020
Jo Nesbø „Messer“ (Ein Harry-Hole-Krimi 12)
Übersetzung Günther Frauenlob

Ein Mann, eingesperrt in einem Auto, treibt im Fluss. Der Mann scheint nach Luft zu schnappen, um Atem zu ringen, die Augen weit geöffnet schlägt er gegen die Seitenscheibe. Bevor der Wagen gänzlich versinkt, registriert der Beobachter die grellblauen Augen des Ertrinkenden und die panische Angst in ihnen. Wir alle ahnen es längst: es scheint sich um Harry Hole zu handeln!

Mit dieser fulminanten Szene katapultiert uns Jo Nesbø geradewegs inmitten seines aktuellen Kriminalromans, rasant und augenblicklich fesselnd. Von diesem schockierenden Punkt ausgehend führt er uns zum Anfang der Geschichte: Harry Hole, ehemaliger Ermittler der Osloer Polizei ist vom Dienst suspendiert, von seiner Frau getrennt und schlittert wieder einmal von einem Saufgelage zum nächsten. Nach einer Kneipenschlägerei, an die er sich selbst nur vage erinnern kann, wacht er am Morgen in seiner Wohnung auf; die Knöchel seiner Hand wund, Blutflecke auf der Jeans und einem mächtigen Kater. Noch bevor die Ernüchterung eintritt erhält er die erschütternde Nachricht, dass seine Frau Rakel Fauke tot in ihrem Haus gefunden wurde. Eine Videonachricht, die bei der Polizei eintrifft und Details der Tat zeigt, trägt ganz klar die Handschrift Svein Finnes. Seit Jahren schon wird nach dem stadtbekannten Vergewaltiger gefahndet.

Nach Tagen der Ausnüchterung macht sich Harry Hole auf eigene Faust an die Ermittlung nach dem Mörder. Bald schon scheint er sich zu verstricken, denn nicht nur Finne steht auf der Liste der Verdächtigen. Hilfe erfährt er von seiner ehemaligen Kollegin und Geliebten Kaya Solness, die eben aus dem Kriegsgebiet Afghanistans zurückgekehrt ist.

Ganz nach Agatha-Christie-Manier präsentiert uns der Autor einen potentiellen Täter nach dem anderen. Jeden einzelnen von ihnen beleuchtet er genauestens, erzählt ihre persönliche Geschichte und lässt uns Leser*innen an deren Vergangenheit teilhaben. Mit schon fast philosophischem Gedankengut geschmückt, zieht sich die Story in die Länge und droht vom eigentlichen Fall abzuweichen. Doch redeten wir nicht von Jo Nesbø, fügte sich nicht nahtlos ein Detail ins andere.

Wir erleben in diesem, dem zwölften Fall, einen anderen Harry Hole, einen geläuterten, nachdenklichen und verletzlichen Typen. Traumatisiert von Verlust und Trauer. Dennoch überschreitet der Antiheld Hole wieder einmal die Grenze zum Illegalen und wirft damit Fragen zu moralischem Verhalten auf. Mehr als üblich konfrontiert uns Jo Nesbø mit gesellschaftspolitischen Themen.

Am Ende überrascht der Krimi mit höchster Spannung, die dem Anfang des Buches in nichts nachsteht.

Ebenfalls hier im Blog:
Durst
Koma

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Donnerstag, 4. Juni 2020
Jan Costin Wagner „Sommer bei Nacht“
Jannis ist weg! Eben war der 8jährige Junge noch da. Sie waren beim Flohmarkt, Jannis, seine Mutter und Sarah, die große Schwester. Als sich seine Mutter umdreht, ist Jannis verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Familie Meininger passiert wohl hier das Schlimmste, was man sich als Eltern vorstellen kann.

„Die Zeit hat sich verdichtet. Hat sich reduziert. Im Bruchteil einer Sekunde. Ein weiter Raum ist geschrumpft. Auf ein kleinstmögliches Maß. Auf ein buntes Gemälde, eine Zeichnung, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint.“ (281)

Die Wiesbadener Kriminalpolizei schickt Ben Neven und Christian Sandner nach Biebrich, um sich des Vermisstenfalles anzunehmen. Beide sind äußerst zurückhaltende und stille Charaktere, in Ihrer Arbeit gelten sie als gründlich und gewissenhaft. Lediglich der/die Leser/in erfährt bald, was in beiden Köpfen vor sich geht. Die polizeilichen Befragungen finden direkt am Ort des Geschehens statt. Ein Mitschüler will gesehen haben, wie Jannis, einen riesigen Teddybären im Arm, mit einem Mann gesprochen hat. Alles geht nur sehr schleppend voran, bis in den nächsten Tagen eine Überwachungskamera interessante Bilder für die Polizei liefert. Mit steigender Medienpräsenz nehmen die Ermittlungen an Fahrt auf.

Diese steigende Geschwindigkeit und Spannung ist beim Lesen geradezu greifbar. Es ist zu spüren, dass etwas auf einen Höhepunkt hinausläuft. Das war der Moment, an dem ich das Buch immer wieder weglegen musste, weil das, was vielleicht kommen würde, unerträglich zu sein schien.

Jan Costin Wagner versteht es mit wenigen Worten und ohne es direkt auszusprechen das Grausame und Schreckliche in unseren Köpfen entstehen zu lassen. Das ist seine Kunst. Entgegen dem eigentlichen Krimi-Genre versteht er es, den Fokus nicht unbedingt nur auf den Fall zu legen, sondern auch auf das Innere seiner Figuren, die, einer wie der andere, mit ihren eigenen persönlichen Schicksalen zu kämpfen haben. Der Autor lässt uns all diese Gedanken und Gefühle der Protagonisten miterleben.

Es sind die schmerzlichen Themen Pädophilie und Kindesmissbrauch, deren sich Jan Costin Wagner in diesem Krimi annimmt. Zu sehr an der Realität, als dass man das Lesen als Entspannung betrachten könnte. Ein durch und durch düsteres Buch, dennoch unbedingt lesen!

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Auch hier im Blog rezensiert:

Tage des letzten Schnees
Sakari lernt, durch Wände zu gehen

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Freitag, 17. Januar 2020
Jan Kjærstad „Berge“
Übersetzung Bernhard Strobel

Ich muss es gleich vorweg sagen, kann mit meiner Meinung nicht hinterm „Berge“ halten: ich bin begeistert! Bereits zum zweiten Mal hat mich der hierzulande noch nicht so bekannte norwegische Autor Jan Kjærstad mitgerissen. Sprachlich so herausragend und besonders, der Lesegenuss vergleichbar mit dem Schlürfen eines guten Weines, mit langem Abgang. Aber zuerst zum Inhalt:

In einer Ferienhütte, im Wald, in der Nähe von Oslo werden fünf Leichen gefunden, allesamt auf bestialische Weise ermordet. Bald wird publik, dass sich unter ihnen der Vorsitzende der Arbeiterpartei Arve Storefjeld und dessen erwachsene Tochter Gry, ebenfalls stark politisch engagiert, befinden. Statt jetzt aber dem üblichen Krimigenre, Polizei, Ermittlung und Täterüberführung zu folgen, geht der Autor einen anderen Weg. Er stellt Überlegungen an, wer um alles in der Welt, dem kleinen friedlichen Norwegen schaden will. Sollte es sich etwa um einen Terroranschlag halten? Das ganze Land ist erschüttert, gilt es doch als Nation, die sich nicht einmischt, aus den großen politischen Debatten Europas und der Welt heraushält und den Ruf als friedliches Völkchen in beschaulicher Natur genießt. Ein solcher Vorfall rüttelt alle auf, Urteile sind schnell gefasst und man strebt nach einer erfolgreichen und möglichst schnellen Aufklärung.

„Das war das Wertvollste, das wir hatten.[…]Auch in der Zeit nach dem Krieg hatten wir uns meist mit Glanz bewährt. Durch Heraushalten nämlich. Es war uns gelungen, abgeschieden zu leben, unsere Verhältnisse so beneidenswert einzurichten, dass wir es vermeiden konnten, hineingezogen zu werden. In den Dreck, in die Barbarei der Gewalt.“ (Seite 172)

Um das Große und Ganze zu verdeutlichen bedient sich Jan Kjærstad dreier Personen. Zum einen Ine Wang, erfolgreiche Journalistin, die, auch mit schlechtem Gewissen, in diesem spektakulären Ereignis ihre Erfolgschancen wittert (gerade erst hat sie den großen Politiker Arve Storefjeld interviewt und ein biografisches Manuskript erstellt). Zum Zweiten, der angesehene Richter Peter Malm, den wir Leser als besonnenen, aber auch sehr speziellen Zeitgenossen kennen lernen. Die meiste Zeit ist der Pedant mit sich selbst und seinen eigenen Interessen beschäftigt, bis er aufgrund des mutmaßlichen Anschlages beginnt, die derzeitige Situation im Land zu analysieren. Und last but not least Nicolai Berge, dem oppositionellen Flügel der Arbeiterpartei zugehörig, der sich in jungen Jahren Hals über Kopf in die junge Gry Storefjeld verliebt hatte.

Der Autor bedient sich des Mordfalls lediglich als Ausgangspunkt, keinesfalls als Mittelpunkt des Romans. Vielmehr lässt er daraus seine Geschichte entstehen, eine Geschichte über die Gesellschaft Norwegens, politische Machenschaften, Vorurteile und der allgemeine Hang zur Harmonie.
Mit seiner Sprachbegabung, Eloquenz und Empathie für die Menschen wird Jan Kjærstad in Zukunft bei meiner Lektüreauswahl immer ganz vorne dabei sein.

Und so wird das zuletzt gelesene Buch des Jahres zum Highlight desselben.



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Freitag, 30. August 2019
Mareike Fallwickl „Das Licht ist hier viel heller“
Wo ist sie geblieben, die Zeit, in der er ein erfolgreicher Schriftsteller war, ein gefragter Mann bei der Presse, in Literaturkreisen und bei den Frauen. Nichts hat er anbrennen lassen damals, in keinem der Bereiche. Jetzt haust Maximilian Wenger mehr schlecht als recht in einer kleinen Mietwohnung; um ihn herum herrscht Chaos. Seine Schwester versorgt ihn mit Essen während er sich gehen lässt. Alles scheint verloren, seine Frau, sein Haus, seine Kinder und vor allem seine Inspiration. Täglich schlurft er ungewaschen und mit Schlappen an den Füßen, sich am mittlerweile dicken Bauch kratzend, zum Briefkasten. Eines Tages findet er dort einen handgeschriebenen Brief, adressiert an seinen Vormieter. In Abständen kommen weitere Briefe und Wenger wird neugierig. Er beginnt darin zu lesen, fasziniert von der poetischen Sprache, den klaren Worten, die von einem schrecklichen Ereignis erzählen.

Zwischenzeitlich befindet sich seine Exfrau, eine erfolgreiche Influencerin, mit ihrem neuen Partner auf Reisen, um ein Video für ihren Beauty- und Fitnesskanal zu drehen. Die fast volljährigen Kinder der Wengers, Zoey und Spin, sind wie so oft auf sich selbst gestellt, sie kennen das, es war nie anders. Die Geschwister haben deshalb eine ganz besondere Verbindung. Sie sind füreinander da, stehen einander bei in Krisenzeiten und geben sich Halt. Beide Jugendliche versuchen in dieser Zeit ihre eigenen Wege zu finden, privat wie beruflich. Die kurzen Besuche beim Vater überbrücken Sie mit telefonieren, chatten oder Spielen am Handy. Bei einem dieser verhassten Pflichtbesuche entdeckt Zoey die Briefe, liest darin und findet sich in den traurigen, aber auch zornigen Worten der fremden Frau wieder. Denn auch Zoey selbst ist etwas zugestoßen, von dem kaum jemand weiß. Ihren Vater hätte sie da am dringendsten gebraucht, doch der war mal wieder nicht verfügbar.

Was zu Beginn des Buches humorvoll, fast satirisch anmutet, trägt im Ganzen gesehen einen tiefgründigen Kern. Der Themen gibt es viele in Mareike Fallwickls zweitem Roman. Im Vordergrund aber stehen Machtmissbrauch, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und der Umgang mit Grenzen, die gezogen und im nächsten Moment von anderen missachtet werden. Motive also, wie sie aktueller und wichtiger nicht sein könnten. Die Autorin legt außerdem den Finger tief in die Wunde unserer heutigen kurzlebigen Gesellschaft, in der scheinbar Erfolg und Ansehen mehr zählen, als alles Andere. Man könnte den Text als kleinen Rundumschlag bezeichnen, bei dem unter anderem die gesamte Literatur- und Verlagsbranche und die Neuen Medien eine gehörige “Watschen“ erfahren.

Sprachlich lässt sich Mareike Fallwickl von ihren Figuren leiten. Mal obszön und chauvinistische, mal frech, fesch und spritzig und ein anderes Mal sehr rührend und poetisch. Obwohl sie hin und wieder doch für meinen Geschmack zu tief in die Klischeekiste gegriffen hat, finden sich in ihrem Roman eine Menge herausragender Gedanken und Sätze. Das, was sie über eine Überlegung Wengers in folgendem Zitat schreibt, beherrscht sie selbst aus dem Effeff.

„Weil diese Energie, die durch die Sprache in den Briefen flirrt, ihn erinnert an die Macht, die er selbst einmal besessen hat. Er hat gespürt, was Worte auslösen können, was auch er einmal auslösen konnte mit Worten, alles eigentlich, Worte waren sein Stoff, sein Atem, sein Wesen. Er konnte sie herumwirbeln, aufeinanderstapeln, Löcher lassen dort, wo es Still sein musste. Und die Worte, die auf die Stille folgten, waren noch viel lauter.“ (Seite 54)

Eine ganze Palette an Gefühlen hat der Roman in mir ausgelöst, die wenigsten davon waren angenehm. Ein Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren einlädt. Lasst uns diese Einladung annehmen!


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Montag, 22. Juli 2019
Bernhard Jaumann „Der Turm der blauen Pferde“
Dieses Buch ist der Auftakt einer neuen, vielversprechenden Krimireihe um die Münchner Kunstdetektei von Schleewitz. Ich kann jetzt schon sagen, ich bin „angefixt“! Aber jetzt erst mal zum Inhalt:

Ein paar Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs entdecken zwei Jugendliche in einem stillgelegten Eisenbahntunnel in Berchtesgaden Kunstwerke von bis dahin unschätzbarem Wert; ein Waggon voll mit Gemälden, die als „entartete Kunst“ gelten. Besonders angetan hat es ihnen ein Bild mit blauen Pferden, das zumindest einen von ihnen, den 15-jährigen Ludwig, sofort in seinen Bann zieht. Noch nie hat ihn etwas in einer solchen Weise emotional berührt.

„Ein Bild merkt, wenn es wirklich betrachtet wird. Nur dann zeigt es, was es zu zeigen hat. Nur dann beginnt es zu sprechen. Es war ein großer Irrtum zu glauben, dass ein Bild bloß eine bemalte Fläche war.“ (Seite 147)

Im Jahre 2017 taucht eben dieses, als verschollen geglaubte Gemälde, wieder auf. Der Großindustrielle Schwarzer ersteht den “Turm der blauen Pferde“ auf unkonventionelle Weise für ein kleines Vermögen Ein junger Mann hatte es ihm auf der Straße angeboten und schnell waren sie geschäftseinig. Um herauszufinden, wie dieses berühmte Gemälde an einen Straßenhändler gelangt und wo es sich in all den Jahren aufgehalten hat, beauftragt Schwarzer die Münchner Kunstdetektei von Schleewitz. Natürlich wird auch ein Gutachter hinzugezogen, der bestätigt, dass es sich um das Original des 1913 entstandenen Kunstwerks von Franz Marc handelt.

Rupert von Schleewitz, Klara Ivanovic und Max Müller, das Team der Detektei, machen sich also an die Recherche. Rupert ist der Chef des Teams, Klara die Kunstverständige und Max zuständig für jegliche Recherche am Computer und in Archiven. Diese Unterschiedlichkeit der Charaktere und Fertigkeiten verspricht effiziente Arbeit an dem Fall und schon bald wird in alle Richtungen ermittelt. Auch führt die Spur nach Berchtesgaden und es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, in dem keiner mehr sicher sein kann, was Original und was Fälschung des berühmten Bildes ist. Ach ja, fast hätte ich‘s vergessen, gemordet wird in diesem Krimi auch.

In einfacher, flüssig zu lesende Sprache erzählt, überrascht der Autor mit überaus spritzig witzigen und schlagfertigen Dialogen. Hier beweist Bernhard Jaumann einen spitzfindigen Humor. Besonders schön und fast schon poetisch beschrieben sind das Gemälde selbst und das was Ludwig bei seinem Anblick empfindet.

„Köpfe und Kruppen von vier blauen Pferden drängten sich in- und übereinander, als wären sie eins, ein zugleich kraftvolles wie scheues Wesen. Stilisiert und doch lebendig, hart in den Konturen und doch in weichen, wie vor Energie schwingenden Rundungen sich selbst beseelend. Zu einem Turm aus geballtem Leben schichteten sich die Pferde auf…..“ (Seite 13)

Ein bisschen musisch angehaucht zu sein kann für diese Lektüre nicht schaden, ist aber auch zum Verständnis der Geschichte nicht notwendig. Auf jeden Fall macht das Thema Lust auf die schönen Künste und ist ein Anstoß, ein so altes Werk mit seiner eigenen Geschichte und vielleicht sogar seinen Künstler auf neue Art zu betrachten. Für mich war das ein riesiger Spaß!

Mit diesem einzigartigen und spannenden Kunstkrimi hat es Bernhard Jaumann auf die Longlist der diesjährigen Crime Cologne geschafft; meiner Meinung nach zu Recht!

Ich kann nur dazu raten, lesen lesen, unbedingt lesen!


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Dienstag, 9. Juli 2019
Rebecca Hunt „Everland“
1913 entdeckt man eine kleine Insel in der Antarktis und entsendet von einem Segelschiff aus ein Team von drei Personen, um die Insel zu erkunden, geologische Proben zu nehmen und sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Schon bald ist der Name für dieses neue Eiland gefunden: Everland. Als Leiter des Teams wird der erste Offizier Napps benannt, begleitet vom erfahrenen Matrosen Millet-Bass und dem jungen Wissenschaftler Dinners. Warum ausgerechnet dieser unerfahrene „Grünschnabel“ den Zuschlag für die Expedition bekommt stößt bei den Besatzungsmitgliedern auf Unverständnis. Wetten werden abgeschlossen, wie lange dieser wohl auf Everland überleben möge. Kaum auf der neuen Insel angekommen, häufen sich die Probleme, menschlicher und witterungsbedingter Natur.

Fast 100 Jahre später, 2012, reist noch einmal ein Schiff in Richtung Everland. Teils auf den Spuren der ersten Entdeckung, aber auch um biologische Forschung zu betreiben. Die Tiere der Antarktis sollen gezählt und markiert und eventuelle Bewegungen der Eisberge dokumentiert werden. Wieder wird ein Team von drei Personen mit kistenweise Proviant auf der Insel abgesetzt. Mit dabei und Chef des Teams: Degger. Für ihn wird dies die letzte Expedition sein bevor er sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückzieht. Zweite im Bunde: Jess, die jüngste unter ihnen, erprobte Assistentin der Feldforschung, fleißig, zupackend, und geradeheraus. Und auch hier wieder eine Unerfahrene: die Wissenschaftlerin Brix, die unter den anderen einen schweren Stand hat. Abermals kriselt es in der kleinen Arbeitsgemeinchaft.

In einem Interview mit ihrem Verlag Luchterhand erklärt die Autorin Rebecca Hunt, sie wolle die Handlung ihres Romans „in zwei verschiedene Zeitebenen aufteilen, in denen sich das Rätsel parallel entwickelt und gleichzeitig auflöst.“ Und genauso ist es ihr gelungen. Die Erzählstränge wechseln mit jedem Kapitel zwischen 1913 und 2012 und bewegen sich auf ein gemeinsames Ende zu.

Die eisige Landschaft der Antarktis beschreibt sie außerordentlich bildhaft, die Figuren menschlich und authentisch. Durch die Dreierkonstellation der beiden Teams entstehen immer wieder Allianzen, die aber durch die Geschehnisse stetig wechseln. Wie bei einem Eisberg, dessen größter Teil unter der Meeresoberfläche liegt, verbirgt sich das Wesentliche dieses Textes zwischen den Zeilen und dem Umgang der Personen miteinander. Die Urgewalten von Mensch und Natur erschweren beide Expeditionen. Es kommt nicht nur zu extrem rasch wechselnden Wettereinflüssen, sondern die Befindlichkeiten der sehr unterschiedlichen Charaktere gefährden letztendlich die Vorhaben.

Ich würde dieses Buch weniger als Abenteuerroman bezeichnen, sondern als Psychogramm der Menschheit, die sich offensichtlich in 100 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Die Gleichartigkeit der Verhaltensmuster sticht als besonderes Merkmal aus der Handlung heraus; meiner Meinung nach der wichtigste Aspekt. Kontroverse Meinungen habe ich seit Erscheinen des Buches verfolgt. Viele von ihnen kann ich gut nachvollziehen, andere nicht. „Everland“ ist wohl eins der Bücher, über das man sich unbedingt selbst ein Urteil bilden sollte. Für mich war die Lektüre ein wahrer Hochgenuss.


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Donnerstag, 20. Juni 2019
Cay Rademacher „Ein letzter Sommer in Méjean“
Die Luft flirrt in der Hitze, man hört die lauten Gesänge der Zikaden, es duftet nach Pinienharz und die vom Meer glattgewaschenen Kieselsteine knirschen unter den Strandschuhen…..

„Die Deutschen sind wieder da!“ Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht im kleinen südfranzösischen Küstenort Méjean. Wieder bezieht die ehemalige Clique das Ferienhaus oberhalb der kleinen Bucht. Wie schon vor genau 30 Jahren, als die Jugendlichen es nach anstrengenden Abiturprüfungen noch mal richtig krachen lassen wollten, bevor der Ernst des Lebens sie in alle Winde verstreuen würde. Doch einer von ihnen ist diesmal nicht mit angereist: Michael, der Sohn aus reichem Hause, gut aussehend, dem alles irgendwie zuflog, ohne dass er sich groß anstrengen musste, mit vielen Talenten ausgestattet und von allen bewundert. Er fiel damals einem Verbrechen zum Opfer, wurde tot am Strand gefunden. Der Fall konnte nicht aufgeklärt werden.

Jetzt hatte jeder der anderen einen anonymen Brief erhalten, in dem ihnen der Verfasser versprach, die Umstände des rätselhaften Mordes endlich ans Licht zu bringen. Und alle kamen sie. Auch die Polizei in Marseille erhält einen Hinweis, der sie dazu zwingt noch einmal im alten Mordfall zu ermitteln. Also entsendet man Kommissar Renard, der gerade erst seinen Dienst nach langer Krankheit wieder aufnimmt. Er hat noch sehr mit den Folgen einer Krebserkrankung zu kämpfen. Ob man ihn noch etwas schonen möchte und deshalb an dieses idyllische Fleckchen schickt, oder weil er ein wenig Deutsch spricht, ist ihm nicht recht klar. Und so nimmt er sich, zunächst inkognito, ein kleines Zimmer im einzigen Restaurant am Ort. Doch bald schon pfeifen es die Spatzen vom Dach: „Ein Flic aus Marseille ist in der Stadt!“

Während alle sich fragen, wie es jetzt weitergeht, streift der ausgemergelte, von Krankheit gezeichnete Kommissar durch Méjean und trifft wie zufällig auf jeden einzelnen der damals Verdächtigen, Dorfbewohner wie Touristen. Nur zögerlich erzählen sie, jeder auf seine eigene Weise und jeder lässt ein kleines bisschen Wahrheit aus.

Der Autor entführt uns Leser in diese herrliche Kulisse des sommerlichen Südfrankreich. Lässt uns miträtseln, macht uns zu Beobachtern und Zeugen und streut zum richtigen Zeitpunkt ein kleines Quäntchen Information hinein, um uns Stück für Stück an die Wahrheit heranzuführen. Er wechselt die Zeitperspektiven und schildert all seine Figuren authentisch und überaus menschlich. Bald schon ist die Oberfläche brüchig und wir sehen, was wirklich darunter liegt. Denn jeder der Beteiligten hat so sein eigenes kleines Geheimnis, das er lieber für sich behalten hätte. Die unglaubliche Atmosphäre im Roman und die nervenaufreibende Spannung werden bis zum Schluss aufrecht gehalten.

Ein Krimi wie er unterhaltsamer nicht sein könnte. Davon will ich mehr!

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