Montag, 11. März 2019
Jocelyne Saucier „Niemals ohne sie“
[…] der Geruch nach warmem Gras, die kühle Brise aus dem Wald, die über die grausamsten Details unserer Vergangenheit streicht, […]. Ich lasse die Bilder auf mich einstürmen, halte die stärksten fest, […] lasse mich ersticken, erdolchen, aufschlitzen, massakrieren, vernichten, und wenn ich tot bin, wenn ich nichts mehr spüre außer den Boden dieses abgrundtiefen Lochs aus Schmerz, fahre ich weiter […]. (Seite 204)

Mehr als 30 Jahre haben sich die Mitglieder der Familie Cardinal nicht mehr gesehen. Jetzt, 1995, treffen sie sich in einem Luxushotel zu einem Kongress. Dem Vater soll, über 80-jährig, eine Auszeichnung zum besten Erzsucher zuteilwerden. Schon im Foyer begegnen sich die 21 Geschwister; die Wiedersehensfreude scheint sich jedoch in Grenzen zu halten, keiner kann dem anderen in die Augen schauen und schnell stieben sie auseinander. Denn sie verbergen ein Geheimnis, das wie ein Schatten über der Familie liegt.

An dieser Stelle könnte ich ausführlich die offensichtlichen Fakten des Inhalts beschreiben: Familie lebt in heruntergekommenem Haus im kleinen Ort Norco; Vater hatte Zinnvorkommen entdeckt, dadurch Hoffnung auf Wohlstand; daraus wurde nichts; Minen wurden bald wieder geschlossen; viele Bewohner des Ortes verloren ihre Existenz; geblieben waren Frust und unbändige Wut. Das alles aber ist Kulisse und Voraussetzung für das, um was es in diesem Roman eigentlich geht. Denn die wahre Geschichte liegt dazwischen, unter der Oberfläche. Dazu später mehr.

Der Vater der Familie verbrachte seine Zeit im Wald mit der Erzsuche oder im Keller, in dem er seine Gesteinsproben katalogisierte, die Mutter stand in der Küche, um ihre Lieben mit Essen zu versorgen und zog sich abends auf ihr Zimmer zurück. Die Kinder waren meistens auf sich gestellt und verbrachten die Tage mit gewaltsamen Straßenkämpfen, Brandstiftungen und kleine Sprengungen mit Dynamit. Ihren Alltag zu Hause regelten sie mithilfe einer strengen Hackordnung unter den Geschwistern. Das führte zu zusätzlichem Streit und Unfrieden. Besonders war es Angele, die mit ihrer Art den Neid und Spott der anderen auf sich zog. Denn Angele war anders, klüger, besonnener, friedfertig. Sie wollte glücklich sein und sehnte sich nach einem besseren Leben. Als ihr ein reiches Ehepaar eine Ausbildung in einer Klosterschule ermöglichte, drohte sie vollends ins Aus der Familie zu geraten. Immer öfter war sie nun den Schikanen der älteren Geschwister ausgesetzt.

Die kanadische Schriftstellerin Jocelyne Saucier hat hier meiner Meinung nach einen ganz großen Roman in atemberaubender Sprache geschrieben. Das ungewöhnliche Setting, die vielfältigen Charaktere in dieser speziellen Familienstruktur und letztendlich die emotionale und herausragende Geschichte sind ein besonderes Leseerlebnis. Der Kern und die Bedeutung liegen tiefer, als zunächst zu erwarten. Es geht um die Sozialisation der Figuren, um die Interaktion zwischen Dorfbewohnern und den Mitglieder der Familie einerseits und der Beziehungsgeflecht zwischen den Geschwistern der Cardinals auf der anderen Seite.

Die Autorin lässt etwa eine Handvoll der im Mittelpunkt stehenden Kinder aus eigener Sicht erzählen. Sie versieht jeden dieser Figuren mit eigenem Tonfall und Wesensart. Sehr einfühlsam bereitet sie den Leser Kapitel für Kapitel auf ein tragisches Erlebnis vor, dass zu Beginn des Buches lediglich als dunkle Ahnung zu spüren ist. Eine Weile braucht es, um sich lesend den Begebenheiten anzupassen, dann aber wird man mitgerissen von der Spannung und der Einzigartigkeit. Die Autorin verlangt dem Leser emotional einiges ab und lässt ihn fast bis zum Schluss im Unklaren über das Geschehen, dass das zukünftige Leben aller Familienmitglieder verändern sollte.

Ein Buch, das man verkraften muss, das aber auch den eigenen Horizont erweitert und nach dessen Ende man nicht einfach ein anderes beginnt. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass dieser Roman zum Besten gehört, das ich seit Langem gelesen habe!


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Freitag, 1. März 2019
William Kent Krueger „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“
Der mittlerweile erwachsene Frank Drum erzählt uns von 50 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die sein Leben und das seiner Familie für immer verändert haben und das Ende seiner Kindheit bedeuteten. Geschehen in diesem einen langen, sehr heißen Sommer 1961 in Minnesota.

Die Beschaulichkeit der Kleinstadt New Bremen gerät ins Wanken, als der junge Bobby Cole tot auf den Eisenbahngleisen nahe der Stadt gefunden wird. Eine große Trauer befällt die Bewohner. Trost und Seelsorge finden sie bei dem Methodistenpfarrer Nathan, Franks Vater. Zuständig für drei Gemeinden, spannt dieser oft die ganze Familie ein. So helfen Frank und sein kleiner Bruder Jake bei den Vorbereitungen der Gottesdienste, die Mutter leitet den Kirchenchor und die ältere Tochter Ariel begleitet sie an der Orgel.

Die Kinder New Bremens werden angewiesen, nicht auf den Eisenbahngleisen an der Brücke zu spielen, und obwohl des Verbotes, oder gerade deswegen, zieht es den 13-jährigen Frank genau an diesen Ort. Am Rockzipfel stets den stotternden kleinen Bruder Jake. Aus kindlicher Neugier wollen die beiden herausfinden, was mit Bobby geschehen ist. Als sie an diesem Tag von der Eisenbahnbrücke herabblicken, entdecken sie am Ufer des Minnesota River einen leblosen Landstreicher, über ihn gebeugt ein alter Sioux Indianer. Bald darauf scheint nicht nur für die beiden Jungen klar zu sein, dass es sich beim Tod des kleinen Bobby Cole nicht um einen Unfall handelte.

Nach den beiden Todesfällen kehrt etwas Ruhe ein, alle gehen ihren Beschäftigungen nach, die Polizei ermittelt, Nathan konzentriert sich auf seine Gottesdienste, Mutter und Tochter beschäftigen sich mit einem musikalischen Auftritt und die beiden Jungs tun Dinge, die kleine Jungs eben so tun in einem heißen Sommer in Minnesota. Dann plötzlich verschwindet Ariel und die Welt der Familie Drum stürzt zusammen.

„Die Zeit im Hause Drum veränderte sich in dieser Nacht. Wir traten in eine Phase ein, in der jeder einzelne Augenblick zugleich mit vollkommen unerlässlicher Hoffnung und grauenhaften, fast unerträglich schlimmen Befürchtungen aufgeladen war. Vaters Reaktion bestand im Beten.“ (Seite 236)

In ruhigen Bildern und mit sanfter Sprache beschreibt der Autor Kleinstadt und Umgebung, spricht alle Sinne des Lesers an und schafft trotz tragischer Umstände eine nahezu friedliche Atmosphäre. Er führt uns durch die Geschichte, nicht ohne uns ab und zu in die Irre zu leiten. Seine Charaktere zeichnete er mit viel Einfühlungsvermögen und Detail. Ganz besonderen Wert legt er hier auf die beiden Brüder, die so unterschiedlich sind wie zwei Seiten einer Medaille. Der eine wild und draufgängerisch, ohne Furcht, der andere zurückhaltend und ängstlich, aber mit hoher emotionaler Intelligenz. Die Unterschiedlichkeit all seiner Figuren in diesem Roman lässt jeden anders mit den Ereignissen umgehen.

Zwischendurch gestalteten sich für mich einige Seiten etwas zäh, doch dann entwickelte der Text eine Dynamik, der ich mich nur schwer entziehen konnte. Im Nachhinein betrachtet waren aber genau diese Seiten notwendig, um zu begreifen, an welchem Punkt eine Veränderung aller stattgefunden hat und worin der große Unterschied zwischen Glück und Unglück liegt.

Ein sehr gefühlvoller Roman, der nachdenklich macht und Fragen aufwirft. Ist immer alles so, wie es scheint? Halten wir uns an Vorurteilen fest, um die Wahrheit nicht zu erkennen? Lohnt sich ein zweiter Blick auf die Dinge? Ist es nicht ratsam, die eigene Sicht auf die Welt zu verändern, statt darauf zu hoffen, dass die Welt sich ändert?


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Dienstag, 15. Januar 2019
Yael Inokai „Mahlstrom“
„Mahlstrom“, einen besseren Titel hätte dieser Roman nicht haben können, bedeutet er doch so viel wie Sog oder Strömung. In diesen wird man als Leser, mag es sich jetzt auch abgedroschen anhören, förmlich hineingezogen. Alles beginnt mit dem Auffinden einer toten jungen Frau im Flusslauf eines Bergdorfes. Mit einem schweren Mantel bekleidet wird sie aus dem Wasser gezogen. Offensichtlich handelt es sich um Selbstmord. Im Dorf wird diese Tatsache unter dem Mantel des Schweigens begraben. Zu Barbaras Begräbnis finden sich alle ein, bis auf zwei junge Männer, Hans und Yann. Hans hat das Dorf schon vor Jahren verlassen, ohne Gruß, ohne Abschied. Yann ist der Zugezogene, der irgendwann aus der Stadt, die für die anderen Kinder unvorstellbar weit weg war, mit seinen Eltern ins Dorf kam. Beide aber gehörten zu dieser einen Clique heranwachsender Kinder, die sich bald nach einem tragischen Ereignis aus dem Weg gingen.

Was es mit dem Tod Barbaras auf sich hat und wer diese junge Frau eigentlich gewesen ist, erfahren wir von einer Hand voll Menschen, die sie wohl am besten gekannt haben. Die Autorin gibt diesen Erzählern nicht nur eine eigene Gestalt, sondern jedem auch eine persönliche Sprache. Aber nicht unbedingt das, WAS sie schildern scheint wichtig, mehr noch, was sie NICHT erzählen, was weggelassen wird. Sie teilen ein Geheimnis, alle im Dorf. Es gibt Dinge, die möglichst verschwiegen gehören, die die Beteiligten verdrängt zu haben glaubten, bis dann eines Tages ……..

Das Außergewöhnliche an diesem Roman ist für mich die Art des Erzählens. Yael Inokai lässt dem Leser Raum für Interpretation, fürs Hineintauchen, fürs Nachempfinden und Erspüren der Atmosphäre, die sich wie etwas Dunkles durch den ganzen Text zieht. Sie vermeidet es, mit harten Fakten zu erschlagen, bleibt oft diffus und etwas geheimnisvoll. Stück für Stück, Seite um Seite wird die Ahnung dessen, was damals geschehen ist, greifbarer.

„Dieser einsame Tod passte nicht in die Sprache, mit der man sich hier über Alltäglichkeiten und Dramen austauschte, als wäre Leben immer das, was die anderen führen, während man selbst unbehelligt davon bleibt.“ (Seite 153)

Am Ende war ich traurig und erschüttert, nachdenklich, aber auch begeistert von diesem kleinen großen Roman.


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Freitag, 11. Januar 2019
Neuheiten des Frühjahrs 2019
Ich freu mich aufs Frühjahr!

Die Feiertage sind rum, der Alltag hat uns wieder, und die Tage werden tatsächlich schon wieder länger. Höchste Zeit also nach vorne zu blicken, auf die Neuerscheinungen des Frühjahrs. Beim virtuellen Blättern in einigen Verlagsvorschauen für das erste Halbjahr 2019 sind mir ein paar Bücher aufgefallen, die mich besonders ansprechen und meine Neugier wecken. In diesem Jahr freue ich mich auf:

Julian Barnes "Die einzige Geschichte"
Berni Mayer "Ein gemachter Mann"
Demian Lienhard "Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat"
William Kent Krueger "Für eine kurze Zeit waren wir glücklich"
Simone Meier "Kuss"
Eugene Chirivici "Das Echo der Wahrheit"

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Freitag, 4. Januar 2019
Volker Kutscher „Marlow“
Der Autor Volker Kutscher nimmt uns Leser zum siebten Mal mit in „sein“ Berlin; diesmal ins Jahr 1935. Eine Zeit, in der Deutschland auf direktem Wege auf eine Diktatur zusteuerte, das „Führerprinzip“ galt in allen Gesetzesfragen. Amerikanische Musik durfte nicht mehr gehört werden, bestimmte Autoren und Bücher wurden verboten, die Wehrmacht aufgebaut und die „Nürnberger Gesetze“ traten in Kraft. Sie besagten, dass die “deutsche Herrenrasse“ sich von „niederen Elementen“ unterschied. Menschen ausländischer Herkunft, sowie Juden und deren Angehörige wurden im Land nur mehr geduldet, verloren aber Stellung und Anerkennung.

Die politischen Veränderungen machen auch vor der Familie Rath nicht Halt. Es sind turbulente Zeiten für alle Beteiligten. Kriminalkommissar Gereon Rath ist kurz davor ins Landeskriminalamt zu wechseln; ein Aufstieg, den er lange erhoffte. Seiner Frau Charlotte wird es nicht mehr erlaubt als Juristen zu arbeiten, sondern wird in der Kanzlei als Rechtsgehilfin angestellt. Nebenbei unterstützt sie ihren ehemaligen Chef Böhm in dessen Detektivbüro. Doch statt einen wichtigen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft zu leisten, haben sie es mit eifersüchtigen Ehemännern zu tun, die ihre Frauen überwachen lassen. Nicht gerade eine Beschäftigung, die der selbstbewussten „Charlie“ gerecht wird. Zu allem Überfluss muss sie mit ansehen, wie ihr Ziehsohn Fritze immer mehr der Faszination der Hitlerjugend erliegt.

Der letzte Fall in der Mordkommission hat es allerdings für Gereon Rath noch mal in sich. Ein Berliner Taxifahrer rast geradewegs in eine Brückenmauer, auf dem Rücksitz ein elegant gekleideter Herr, der einen Blumenstrauß und ein Paar Verlobungsringe mit sich trägt. Die beiden Insassen sind auf der Stelle tot. Zunächst ist nicht klar, warum der Unfall das Morddezernat auf den Plan ruft, doch als Rath bei der Untersuchung des Fahrgastes geheime Dokumente findet, wird der Fall kompliziert. Zur gleichen Zeit etwa beschäftigt sich Privatdetektiv Böhm mit einem Tötungsfall, der weit in der Zeit zurück liegt, im Jahr 1927.

Ein durchweg gut konstruierter historischer Kriminalroman, der Struktur, Stimmung und Atmosphäre des sich etablierenden Nationalsozialismus‘ einfängt und spürbar macht.

„Die Heil-Rufe schwollen an, je näher der schwarze Mercedes kam, und Rath spürte, dass er, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben und ohne dies bewusst zu wollen, dabei war, mit den anderen den rechten Arm zu heben, weil hier niemand war, der nicht den Arm hob, weil alle es taten; und er merkte, dass er nicht dagegen ankam.“ (Seite 280)

Ganz nah an seinen Figuren erzählt der Autor von deren Empfindungen und der teilweise geheimen Vergangenheit, die in den Büchern davor noch unklar geblieben war. Im Mittelpunkt aber steht der zwielichtige Johann Marlow, wie uns der Titel bereits verrät. ICH allerdings verrate jetzt nicht noch mehr. Selber lesen macht schlau!

Faszinierend und absolut lesenswert vom ersten bis zum siebten Fall!

Mehr vom Autor hier im Blog:
Lunapark

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Samstag, 29. Dezember 2018
Viveca Sten „Tödliche Nachbarschaft“
In Sandhamn gelten eine Handvoll ungeschriebener Gesetze und Traditionen, nach denen sich das Zusammenleben auf der Insel gestaltet. Ab und zu allerdings muss ein Auge zugedrückt werden, denn eine solch kleine Gemeinde finanziert sich über den Tourismus und natürlich zahlungskräftige neue Bewohner. Also ist es nicht verwunderlich, dass der reiche Londoner Investor Carsten Jonsson eine außergewöhnliche Baugenehmigung erhält. Und so entsteht an einem wunderschönen Strandabschnitt der Insel eine riesige Villa mit kleineren Nebengebäuden und eigenem Zugang zum Meer. Das stößt so manchem Inselbewohner mächtig auf; allen voran dem direkten und streitsüchtigen Nachbarn.

Auch Nora Linde verbringt diesen Sommer wieder in ihrem Ferienhaus auf Sandhamn und bekommt den Unmut der Inselbewohner überall zu spüren. Hitzige Gespräche beim Bäcker, aufgebrachtes Tuscheln hinter vorgehaltener Hand im Restaurant und die Verbreitung von Klatsch und Tratsch im Schwimmbad sind derzeit an der Tagesordnung. Hauptthema des Unmutes ist die fast fertig gestellte Villa der Jonssons. Der Hausherr ist bereits vor Ort und leitet die Handwerker an, während seine Frau mit den Kindern später nachzukommen plant. Stolz auf seinen Reichtum, bemüht sich Carsten Jonsson um Beliebtheit bei den zukünftigen Nachbarn und gibt mit seinem neuen Heim ordentlich an. Zum großen Einweihungsfest werden fast alle Bewohner der Insel geladen, und obwohl den meisten das Anwesen ein Dorn im Auge ist, gehen sie zur dekadenten Party. Da scheint die Neugierde doch größer als die Abneigung zu sein. Und wie erwartet werden sie von einer strahlenden Familie in einem gläsernen Palast und allem möglichen Luxus empfangen.

Am nächsten Morgen ist alles anders: der Hausherr verschwunden, ein Nebengebäude vollkommen niedergebrannt, Frau Jonsson und die Kinder verstört, das Kindermädchen steht unter Schock und eine verkohlte Leiche wird in der Nähe des Strandes gefunden.

Der Kriminalkommissar Thomas Andreasson ermittelt, wenngleich er gerade in einer persönlichen Krise steckt. Er überlegt, der Polizei für immer den Rücken zu kehren, geregelte Arbeitszeiten zu haben und sich mehr um seine junge Familie zu kümmern; er ist müde von zu viel Leid und Tod. Zum Glück steht ihm seine gute Freundin Nora Linde wieder als Hilfe zur Verfügung, denn auch sie war auf dem großen Fest der Londoner Familie.

Gewohnt spannend und mitreißend fand ich auch diesen siebten Fall von Viveca Stens Reihe. Wenn auch am Anfang etwas holprig und zwischendurch doch leicht vorhersehbar, ein Lesevergnügen von Anfang bis Ende. Diese Holprigkeit empfand wohl auch die Autorin, denn in der Danksagung schreibt sie: „[…] ein Buch, das sich nicht schreiben lassen wollte. Es war trotzig und widerwillig und sträubte sich die meiste Zeit. Dass es daran liegen könnte, dass die Arbeit an diesem Buch mit der schweren Erkrankung eines nahen Angehörigen zusammenfiel, habe ich viel zu spät erkannt.“

Eine außergewöhnliche und sehr offene Bemerkung, und sie unterstreicht die Sympathie, die ich für Viveca Sten empfinde. Diese Feinfühligkeit und Empathie ist in jeder Seite des Buches, in jeder ihrer Figurenbeschreibungen zu spüren. Der nächste Fall liegt deswegen schon bereit.


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Freitag, 7. Dezember 2018
Der etwas andere Jahresrückblick / Highlights 2018
“Es liegt eine Art Magie über dem Fortgehen, um dann völlig verändert zurückzukehren.” (Kate Douglas Wiggin)

Von dieser Magie möchte ich in meinem diesjährigen Jahresrückblick der Highlights erzählen. Einen glücklichen Menschen kann sich nennen, wer die Welt bereisen kann. Der eine tut das tatsächlich, der nächste vielleicht mit dem Finger auf der Landkarte und Leser auf literarischem Wege. Letztere haben den Vorteil, nicht nur Orts- sondern auch Zeitgrenzen überschreiten zu können.

Vom Wegfahren und dem Wiederkommen

Mit gepackten Koffern habe ich mich auf die Reise gemacht. Per Schiff ging es über den großen Teich zu meiner ersten Station: Lima, Peru. 1863 sollte mein erstes Abenteuer auf den Spuren der goldenen Stadt beginnen.(1) Mein junger Reisebegleiter, August Rudolph Berns, hatte mir schon oft vom El Dorado in Südamerika erzählt. Ein wirklich anstrengendes Reiseziel, von dem ich mich so schnell nicht erholen sollte.
Mein nächstes Ziel war die Kleinstadt St. Martinsville, Louisiana, Anfang der 1940 er Jahre. Dort hatte ich mir ein paar schöne Tage erhofft. Tatsächlich aber traf ich auf aufgewühlte, sehr unruhige Einwohner; es war sichtlich etwas im Gange. Bald darauf brachten zwei Männer einen Stuhl in die Stadt, wie ihn vorher noch nie jemand gesehen hatte: den Mercy Seat(2), den elektrischen Stuhl, mit dem noch am gleichen Tage ein junger Schwarzer exekutiert werden sollte. Schrecklich!
Doch wo ich dann schon mal in den Staaten war, fuhr ich geradewegs nach Wisconsin (die 1960 er Jahren hatten begonnen), um dort die Herzen der Männer(3) zu erobern……… naja besser gesagt zu erforschen. In diesem Abschnitt meiner Reise habe ich so allerhand über Mann und Mensch erfahren, mich das eine oder andere Mal gewaltig über dieselben aufgeregt und am Ende einiges über Amerika, Kriegshelden und Pfadfinder gelernt. Und über Männer natürlich!
Nicht weit entfernt hat mich Allen Eskens(4) mit dem jungen Studenten Joe Talbert bekannt gemacht. Wir beide haben zusammen eine Hausarbeit geschrieben und sind im Zuge derer auf einen alten Mordfall gestoßen. Sollte eine Weile dauern, bis wir durch unsere Recherche der Wahrheit auf der Spur waren.
Zeit, nach Europa zurückzukehren. Über Norwegen, wo ich mit John Richard Norman(5) viele Stunden im Schaukelstuhl sitzend mit Blick aufs Meer verbracht habe, Verlagsmanuskripte durchgearbeitet, und, das darf ich verraten, Zeuge einer exzessiven Liebesbeziehung wurde, machte ich mich auf den Weg nach Schweden.
Dort bin ich mehrmals im Jahr unterwegs. Und obwohl ich stets mit Kommissar Thomas Andreasson und seiner Bekannten Nora Linde einige Verbrechen aufkläre, so ist dieser Urlaubsort inmitten der idyllischen Inseln immer wieder eine willkommene Auszeit; das besondere Schärenlicht(6) muss man gesehen haben.
Danach bin ich eine Weile Gast gewesen in der Nähe von München, bei Alexander von Brücken, Sohn eines Industriemagnaten. Der hat mir von seinem bewegenden Leben erzählt. Von seiner Kindheit und seiner großen Liebe, die ihn in Gedanken nie losgelassen hat(7). Und gleich darauf habe ich Bodo Kirchhoff(8) getroffen. Dieser hat mir von etwas ganz Unglaublichem berichtet, was wiederum MICH nicht losgelassen hat; ein sexueller Übergriff in einem Internat. Aber auch schöne Dinge hat er zu erzählen gehabt, sodass nicht alles so ganz rabenschwarz erschien.
Apropos Farben: Der Geruch nach feuchtem Farn lockte mich dann aber doch noch zu einem Abstecher ins schöne Österreich. Die Wälder dort sind voll dieser dunkelgrünen, fast schwarzen Pflanze(9); beeindruckend! Auf einem Spielplatz am Waldbrand beobachtete ich, wie sich zwei vierjährige Jungs, Raffael und Moritz, anfreundeten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie verhängnisvoll sich diese Freundschaft entwickeln würde.

Das waren nur einige Stationen meiner diesjährigen literarischen Reise. Dann war ich froh, zu Hause wieder angekommen zu sein, die Füße hochzulegen und meine Abenteuer Revue passieren zu lassen. Aber jetzt ich bin schon fast wieder auf dem Sprung, denn zum Ende des Jahres zieht es mich noch nach Berlin, 1935. Der Kriminalkommissar Gereon Rath, mittlerweile beim LKA, hat mich um Mithilfe gebeten. Der Fall ist schwer einzuordnen in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten immer mehr an Macht gewinnen. Ein Erholungsurlaub wird das sicher nicht! Davon werde ich dann später berichten.

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Montag, 19. November 2018
Salih Jamal „Orpheus“
„Außer der Liebe gibt es kein größeres Gefühl als das von Musik, wenn sie dich erfasst, dich zieht, schiebt, umweht oder anhaucht. Wenn sie dich ergreift und dich auf ihren Schwingen einem Adler gleich schwebend über alles Irdische emporhebt und fortträgt.“ (Seite 100)

Orpheus und sein jüngerer Bruder sind die Enkel in einer Familiendynastie, an deren Spitze der Großvater Zeus steht. Gewaltbereit und despotisch wacht er über das gesamte Familienimperium, scharrt die Mitglieder seiner Sippe um sich wie Jünger und duldet keinerlei Widerspruch. Auch Orpheus‘ große Liebe Nienke ist mit eingebunden, als Anwältin in der Firma Zeus‘ angestellt. Orpheus selbst frönt seiner Musikleidenschaft und hält sich neben den Auftritten mit seiner Band mit kleineren Jobs über Wasser. Eines Tages findet Nienke Ungereimtheiten in den Papieren des Alten und glaubt ihn nach einiger Recherche mit einem alten Mordfall in Verbindung bringen zu können. Orpheus ist außer sich, hadert anfangs mit sich, ist dann aber bereit, gegen den eigenen Großvater vorzugehen. Und dann verschwindet seine Geliebte eines Morgens, und seine Gedanken drehen sich fortan nur noch um die vermisste Nienke. Lediglich mit schönen Erinnerungen an seine Liebste hält sich Orpheus aufrecht.

Ein Buch der Extreme und den, auf den ersten Blick, stilistischen Unvereinbarkeiten. Auf den zweiten Blick fügt sich manches ineinander. So orientiert sich der Autor zum Beispiel an der griechischen Sage um Orpheus und Eurydike und holt die Basis der Geschichte in die Neuzeit. Auch funktioniert es, Literatur und Musik in Einklang zu bringen, obwohl man sich fragen könnte wie der „Time Warp“ aus der Rocky Horror Picture Show zur „Mondscheinsonate“ von Beethoven passt. Jedes Kapitel ist mit einem Musikstück überschrieben und so begegnen sich Cat Stevens und Peer Gynt wunderbar auf musikalischer und literarischer Ebene. Damit hat der Autor absolut meinen Geschmack getroffen.

Salih Jamal lässt keine Grauzonen zu, bei ihm gibt es nur Schwarz und Weiß. So auch seine Sprache: auf der einen Seite über die Maßen poetisch und einfach schön zu lesen, auf der anderen Seite obszön, geradeheraus und kaum zu ertragen. Und genau hier hat es für mich nicht den erwarteten Zusammenhalt gefunden, zumal beides aus einer Perspektive erzählt wurde. Abgesehen davon, dass es mir sprachlich etwas dick aufgetragen war, so sind mir zwischendurch immer wieder unpassende, umgangssprachliche Begriffe aufgefallen, die den schönen Lesefluss für mich behindert haben und nicht zur Figur des Protagonisten gepasst haben.

Mein Lesevergnügen (der Autor hatte mich von der ersten Seite in Bann gezogen) endete zur Hälfte des Buches bei der Beschreibung einer extremen Gewaltszene. Nicht, dass ich solches aus anderen Krimis nicht gewohnt wäre, doch die Genauigkeit und die abstoßende Wortwahl, die verwendet wurde, war mir persönlich zu heftig, und die Bilder haben sich lange vor meinem inneren Auge gehalten. Für mich liegt die Kunst der Literatur oft in Andeutungen, im Ungesagten oder den Worten zwischen den Zeilen. Da ist weniger manchmal mehr.

Leider kann ich diesen Roman trotz der originellen Idee und der zahlreichen poetischen Sätzen nicht uneingeschränkt jedem empfehlen!



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Dienstag, 6. November 2018
Allen Eskens „Das Leben, das wir begraben“
Der junge Student Joe Talbert schlittert unvermittelt in einen alten, längst vergessenen Mordfall. Ausgesucht hat er sich das nicht. Eigentlich wollte er nur eine Hausarbeit schreiben. Aufgabe war es, eine kurze biografische Abhandlung über einen Menschen zu schreiben. In der Absicht jemanden zu interviewen, der auf ein langes Leben zurückblicken kann, geht er in das nächstgelegene Pflegeheim. Die Leiterin verweist ihn auf einen Mann, schwer an Krebs erkrankt, der nur noch kurze Zeit zu leben hat. Viel zu erzählen dürfte auch haben, saß er doch 30 Jahre lang wegen Vergewaltigung und Mord eines jungen Mädchens hinter Gittern.

Nun, das war nicht gerade das, was sich Joe zu so vorgestellt hat, stimmt dem Vorschlag nach kurzem Zögern aber zu. Seine Zeit bis zur Abgabe der Arbeit ist knapp und es ist ja nicht so, als hätte er nicht genug um die Ohren: die Sorge um den autistischen Bruder, den er mit Beginn des Studiums bei der ständig alkoholisierten Mutter zurücklassen musste; die Geldknappheit, der er mit kleineren Nebenjobs beizukommen versucht und die häufiger werdenden Anrufe der Polizei, wenn seine Mutter wieder einmal inhaftiert wurde. Und jetzt gerät er für sein Referat ausgerechnet an dieses “Monster“. Eher widerwillig ist er also bereit, sich mit Carl Iverson, dem Verurteilten Mörder zu unterhalten.

„Als ich in jener Nacht schließlich Schlaf fand, legte ich mich im trügerischen Glauben, dass es bei meinem Treffen mit Carl Iverson keine Kehrseite gab, dass unsere Begegnung mein Leben irgendwie besser und einfacher machen würde. Im Rückblick war ich mindestens naiv.“ (Seite 43)

Joe will die Sache schnell hinter sich bringen, ein paar Interviews, ein paar Sätze notiert und fertig. Doch es soll anders kommen als gedacht, behauptet Carl doch, der 14-jährigen Crystal Hagen damals kein Haar gekrümmt zu haben. Der junge Student wird neugierig und gerät bald in einen Sog, der ihn so schnell nicht wieder loslässt. Nach ein paar Besuchen, in denen es dem alten Mann immer schlechter zu gehen scheint, kommen sich beide näher. Mehr und mehr ist Joe von der Unschuld Carls überzeugt. Seine eher zurückhaltende Nachbarin Lila unterstützt ihn bei seiner Recherche den alten Fall betreffend.

Der Autor schickt hier etwa nicht einen großen Helden als Protagonisten ins Rennen, sondern erzählt aus Sicht eines scheinbar ganz normalen Studenten, eines jungen Menschen mit herzensguter Seele. Die Sprache ist, wie Joe selbst, jung und spritzig, aber auch etwas naiv und schüchtern. Das lässt Schrecken und Gewalt nicht im Polizeijargon verschwinden. Auch verzichtet Allen Eskens darauf, die Tat selbst allzu bildlich zu beschreiben, sondern konzentriert sich hauptsächlich auf Joes Nachforschungen. Und das ist spannend von der ersten Seite an, die Geschichte um das Verbrechen herum fast rührend, die Figuren sympathisch und authentisch.

Ein Buch, das man in die Hand nimmt, um eben mal zwei Seiten zu lesen und dann verschwindet die Welt um einen herum, und wenn man es zur Seite legt, sind Stunden vergangen. Ein kurzweiliger Krimi mit 100-prozentiger Unterhaltungsgarantie!


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