Freitag, 5. Oktober 2018
Viveca Sten „Tod in stiller Nacht“
Auch dieser nächste Band der schwedischen Autorin konnte mich vollends überzeugen. Nicht zuletzt wegen des Themas, das heute aktueller denn je ist. Aber zuerst zur Geschichte:

Am ersten Weihnachtsfeiertag frühmorgens, Schweden liegt unter einer dicken Schneedecke, wird auf der Schäreninsel Sandhamn die gefrorene Leiche einer Frau entdeckt. Sie hatte sich am Heiligabend im idyllischen Hotel eingemietet, sichtlich nervös und körperlich in desolater Verfassung. Das Restaurant, in dem sie einen Tisch für das Weihnachtsessen reserviert hatte, hat sie an diesem Abend nicht mehr lebend erreicht.

Kriminalkommissar Thomas Andreasson wird mit dem Fall beauftragt, obwohl er gerne die Feiertage mit seiner jungen Familie im Ferienhaus auf Harö verbracht hätte. Wie sich schnell herausstellt handelt es sich bei der Toten um die bekannte Journalistin und Kriegsberichterstatterin Jeanette Thiels. Die Prominenz des Opfers setzt ein behutsames Vorgehen und Einfühlungsvermögen bei der Aufklärung voraus. Die Presse soll zunächst wenig erfahren. Thomas und seine Kollegen, unter ihnen der junge Polizist Aram, ermitteln unter höchstem Druck und stoßen bald auf den Namen einer schwedischen Organisation, die rechtspopulistische Propaganda im Land betreibt und zusehends eine große Anzahl Anhänger gewinnt. Doch bald schon muss sich auch Thomas eingestehen (nichts bringt ihn so sehr in Rage wie Fremdenfeindlichkeit und rechtes Gedankengut), dass auch er, Thomas, nicht frei von Vorurteilen ist. Und dann verschwindet sein Kollege Aram. In den letzten Monaten hatte sich Thomas mit dem Assyrer und dessen Familie angefreundet. Dessen Schicksal, die gefährliche Flucht mit seinen Eltern aus der Heimat, hatte ihn in tief betroffen gemacht. Die Sorge um seinen Freund und der öffentliche Druck nach Aufklärung des Mordfalles an Jeanette Thiels bringen Thomas Andreasson an seine psychischen Grenzen.

Lange bleibt unklar, was genau mit der jungen Frau passiert ist. Verdachtsmomente und potentielle Schuldige gibt es genügend, Jeanettes derzeitige Recherchen, der Exmann, mit dem sie sich um das Sorgerecht der Tochter stritt oder die Nachbarin, mit der sie sich des öfteren schon überworfen hatte.

Wie es am Ende auch kommt, die Autorin hat uns Leser fest im Griff, lässt uns nicht zu Atem kommen, lässt uns ahnen, rätseln, bindet uns ein in die Ermittlungen, in Gedankengänge, lässt uns Vorurteile überdenken, um uns allesamt am Ende zu überraschen. Sie bezieht mit der Wahl des Themas ganz klar Stellung gegen die in der Gesellschaft aufkeimende Fremdenfeindlichkeit und rechte Hetze. Das gefällt mir!

Würde ich eines zu Viveca Stens Krimireihe sagen können, wäre es folgendes: Langweilig wird es hier nie!


Mehr von Viveca Sten hier im Blog:

„Beim ersten Schärenlicht“
„Mörderische Schärennächte“


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Dienstag, 2. Oktober 2018
Giuliano Musio / Manuel Kämpfer „Keinzigartiges Lexikon“
Im Blog „KulturStattBern“ der Schweizer Zeitung "Der Bund" wurden letztes Jahr in regelmäßigen Abständen diese schönen Texte veröffentlicht. Der Verlag Edition Taberna Kritika hat jetzt daraus ein feines broschiertes Büchlein herausgebracht.

Darin beschäftigt sich der Schriftsteller Giuliano Musio mit den kleinen aber bedeutungsschweren Worten, die aus unserer Sprache nicht mehr wegzudenken sind. Er stellt sie auf den Kopf, dreht sie um, hinterfragt deren Bedeutung und fügt gekonnt einen großen Spritzer trockenen Humors hinzu. So zum Beispiel macht er uns auf die Gefahren des bisher unterschätzten “Passivtrinkens“ aufmerksam, zeigt die Symptome des Passivalkoholikers auf. Des Weiteren versucht er aufzuklären, was es mit der Bedeutung des „Klitzegroß“ auf sich hat oder woran man den „Neunmaldoofen“ zum Beispiel in der Welt des Internets erkennt (dieser soll im Netz derzeit schon weit verbreitet sein – Anmerkung meinerseits). Verfeinert werden die kleinen Texte des Autors (dessen Debütroman “Scheinwerfen“ ich hier nochmals wärmstens empfehlen möchte) mit wunderschönen, detailreichen Illustrationen aus der Feder von Manuel Kämpfer. Die beiden scheinen ein unschlagbares Team zu sein im Spiel mit Sprache und deren bildliche Beschreibung.

Wenn man also nicht gerade zum Lachen in den Keller geht, ist das Büchlein ein wunderbares Vergnügen für die Unterhaltung zwischendurch. Ich werde es auf jeden Fall auf meine Liste der „Verschenkbücher“ setzen.

Zusätzliche Hinweise:

Giuliano Musio: “Scheinwerfen“
Verlagskonzept etk


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Montag, 17. September 2018
Bodo Kirchhoff „Dämmer und Aufruhr: Roman der frühen Jahre“
In einem kleinen Hotel in Italien mietet sich der Autor Bodo Kirchhoff für eine Zeit ein, im Gepäck seine Schreibutensilien und Fotos, um Erinnerungen an seine Kindheit und seine Familie niederzuschreiben. Hier scheint er seinen Eltern und den „frühen Jahren“ seines Lebens am nächsten zu sein. Denn hier haben seine Eltern ihre letzten glücklichen Tage vor ihrer Trennung verbracht. So richtet er sich auf dem kleinen Balkon ein und beginnt seine Lebensgeschichte zu schreiben.

Als Kind der Nachkriegsgeneration wächst er in den 1950 er Jahren in Hamburg auf. Die Eltern mehrheitlich mit sich selbst beschäftigt, die Mutter strebt eine Karriere als Schauspielerin an, der Vater versucht sein eigenes Geschäft aufzubauen, bleibt wenig Zeit für den Sohn und dessen Belange. Der will sich nicht recht einfinden in das Leben, in die Gesellschaft, in die Schule und sucht immer wieder die Nähe zur Mutter. Immer öfter gibt die ihn jedoch nach der Schule in die Obhut der Großmutter. Der Junge, offensichtlich emotional von den Eltern vernachlässigt, findet dann aber Halt bei der fürsorglichen Oma, die schnell zur engsten Vertrauensperson wird. Im Alter von elf Jahren schickt man ihn in ein katholisches Internat, in der Hoffnung, ihm hier den Boden für seine Zukunft ebnen zu können.

Und wieder sucht der mittlerweile Heranwachsende nach Nähe und Halt und orientiert sich an Älteren und Stärkeren. Dann nimmt sich der Kantor, Sport- und Musiklehrer, sich des Jungen an; beginnt ihn zu fördern und verbringt ungewöhnlich viel Zeit mit ihm. Der Schüler genießt die Aufmerksamkeit, doch schon bald kommt es zu sexuellen Übergriffen, die von dem jungen Menschen kaum verstanden werden können und die mit Liebe und Zuneigung verwechselt werden. Es beginnt eine Zeit der jahrelangen emotionalen Abhängigkeit.

Und obwohl das sicherlich das einschneide Erlebnis im Leben des Autors bleibt, rückt er es nicht in den Mittelpunkt seines autobiografischen Romans. Er erzählt frei und ungeschönt von den schlechten aber auch den guten Zeiten, manchmal unsicher, ob sich alles genauso zugetragen hat. Erinnert sich anhand alter Fotos, die er so genau und einfühlsam beschreibt, dass der Leser glaubt, eben dieses Schwarzweiß Foto mit welliger weißer Umrandung in Händen zu halten. Bis zum Tod der Mutter lässt uns Bodo Kirchhoff an seinem Leben teilhaben, an Kindheit, Jugend und die wilde Zeit der 1960 er Jahre, in denen persönlicher und politischer Aufruhr an der Tagesordnung waren. Er lässt uns ganz nah heran und bleibt doch sprachlich oft auf Abstand. So verwendet er zum Beispiel selten das Wort “ich“, sondern spricht über sich selbst in der dritten Person. Seine Sätze sind trotz schmerzlichen Inhalts poetisch und teilweise zu schön, um sie nur ein einziges Mal zu lesen.

Der Autor klagt nicht an, übt keine Rache oder rechnet gar mit Tätern ab; auch an Mitleid scheint ihm nicht gelegen. Am Anfang dachte ich noch zu schreiben “der Autor gibt allen Opfern eine Stimme“, das stimmt jedoch nicht, er bleibt ganz bei sich, ist nur seine eigene Stimme, macht aber auch dadurch aufmerksam auf schreckliche Umstände. Zeigt, wie er selbst mit Schmerz, Sehnsucht und eigenen Irrwegen zu sich selbst gefunden hat. Das Zu-sich-kommen im Schreiben sozusagen, am Ende sogar ein Mit-sich-im-Reinen-sein.

Für mich ist Bodo Kirchhoff ein ganz großer Schriftsteller, der mich mit seiner Art des Erzählens, seinem Tiefgang immer bis ins Mark trifft.

Mehr vom Autor hier im Blog
Widerfahrnis
Verlangen und Melancholie
Die Liebe in groben Zügen


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Mittwoch, 15. August 2018
Viveca Sten „Beim ersten Schärenlicht“
Mittsommer in Schweden ist weit mehr als mit blumengeschmücktem Haupt fröhlich um eine Maistange zu tanzen und Heringe mit jungen Kartoffel zu essen. Mittsommer in Schweden (und das habe ich selbst schon erlebt) ist weitab vom traditionellen Gedanken vor allem ein großes Besäufnis. Scharen von Jugendlichen tummeln sich auf den kleinen Schäreninseln, betrinken sich bis zur Bewusstlosigkeit, was diesem einst so schönen Fest einen üblen Beigeschmack gibt. Alles steht Kopf in Schweden an „Midsommar“.

Diesem Ausnahmezustand nimmt sich Viveca Sten im fünften Fall um den Kriminalkommissar Thomas Andreasson an. Die Schäreninsel Sandhamn beginnt sich bereits mit feierwütigen Jugendlichen zu füllen. Ein ganzes langes Wochenende steht Ihnen zur Verfügung, um ungehemmt tanzen, flirten und trinken zu können. Manche von ihnen kommen mit der Fähre, andere, Sprösslinge der etwas betuchteren Gesellschaft Schwedens, reisen mit dem eigenen Boot an. So wie Victor und Tobbe, im Schlepptau ihre Freundinnen Edda und Felicia und eine ganze Menge Alkohol. Auch ein hohes Polizeiaufkommen hat sich auf der kleinen Schäreninsel für dieses Spektakel eingefunden; in wenig freudiger Erwartung mehrfachen Eingreifens. Im Laufe des Abends, mit allerlei „Stoff“ intus und einem heftigen Streit, zerstreut sich die Clique um Victor und Tobbe. Einige wechseln zu Partys auf andere Boote oder schlagen ihr Lager um ein Feuer am Strand auf. Stunden später irrt Felicia völlig orientierungslos über die Insel, Edda meldet sich bei der Polizei und Victor wird tot aufgefunden.

Thomas Andreassons Jugendfreundin Nora Linde verbringt ebenfalls die Sommerwochen in ihrem Ferienhaus in Sandhamn. Zusammen mit ihrem neuen Lebensgefährten, seiner Tochter Wilma und ihren eigenen Söhnen freut sie sich auf das Mitsommerfest. Doch die 14-jährige Wilma möchte lieber mit ein paar Freunden den Abend am Strand verbringen. Spätestens um 1:00 Uhr soll sie zu Hause sein, so die Abmachung mit ihrem Vater Jonas. Doch Wilma kommt nicht nach Hause und ist am Handy nicht zu erreichen. Da sind eine Menge Sorgen vorprogrammiert.

Hätte ich in Schweden ein Kind in heranwachsendem Alter, würde ich es nach dieser Lektüre an diesem ach so schönen Feiertag nicht mehr vor die Tür lassen. Diese Krimireihe der schwedischen Autorin Viveca Sten ist für mich mittlerweile zu einem Anker geworden. Zwischen all den schwerverdaulichen Geschichten, die ich übrigens sehr gerne lese, habe ich doch einen Hang zum Dramatischen, gelingt es ihr mich mit ihren absolut spannenden Kriminalfällen und ihrer Art des Schreibens auf eine ganz bestimmte Art zu erden. Hier kann ich den Lesestoff einfach konsumieren, kann mich zurücklehnen und alles auf mich wirken lassen. Und bisher ist mir das noch nie langweilig geworden! Sprachlich leicht aufzunehmen überrascht mich die Autorin doch in jedem Buch einmal mehr mit ihrer Themenwahl und der Unterschiedlichkeit des Aufbaus einer Geschichte.

Ich muss gestehen, ich kann davon nicht genug kriegen!


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Mittwoch, 8. August 2018
Nickolas Butler „Die Herzen der Männer“
Wenn mich ein Buch so ganz und gar berührt, mich vor Traurigkeit die ein oder andere Träne vergießen lässt, mich fluchen und aufschreien lässt vor Wut und mich kopfschüttelnd zurücksinken lässt wegen des puren Unverständnisses einer Figur, dann ist das anstrengend, zehrend, aber für mich ein gutes Buch.

Das alles vermochte Nickolas Butler mit dieser so anrührenden und tragischen Geschichte. In großen zeitlichen Schritten und über mehrere Generationen hinweg, bringt uns der Autor die Gefühlswelt und das Verhalten der Männer im Allgemeinen und seinen nicht immer sympathischen Figuren im Speziellen nahe.

Im Mittelpunkt aller steht Nelson. Zu Beginn der Erzählung, 1962, ist Nelson gerade mal 13 Jahre alt. Er wohnt mit seinen Eltern in einer Kleinstadt in Wisconsin, ist ein sensibler Junge, zurückhaltend, ruhig und hat das Herz am rechten Fleck. Er ist aber auch ehrgeizig, beflissen und mitunter pedantisch, was ihm den Ruf eines Strebers einbringt. Freunde hat Nelson nicht. Sein Vater, ehemaliger Soldat, sieht in seinem Sohn einen verweichlichten und schwachen Jungen, dabei wünscht sich Nelson nichts mehr als dessen Anerkennung. Auch diesen Sommer verbringt Nelson eine Woche im Pfadfindercamp. Sein Vater begleitete ihn zwar, geht aber im Lager seine eigenen Wege, sucht Entspannung von Ehestreit und stressigem Familienleben.

Nelson ist auch hier mehr oder weniger alleine, doch als Pfadfinder hat er Erfolg, erarbeitet sich die besten Abzeichen, die es zu erringen gibt und hat die ehrenvolle Aufgabe den Morgenappell auf seiner Trompete zu spielen. Bald glaubt er in dem älteren Jonathan einen Vertrauten gefunden zu haben; auch der alte Pfadfinderführer Wilbur, wegen seines Rufes als „Kriegsheld“ beliebt und geachtet, nimmt sich dem Jungen an und wird für Nelson zum Vorbild. Und doch erlebt Nelson in diesem Sommer seinen größten persönlichen Albtraum.

Nickolas Butler erzählt von schwachen Männern, von starken, von gewalttätigen und rohen, auch Frauen verachtenden. Er erzählt aber auch von den gefühlvollen Männern, den liebenden, fürsorglichen und vor allem den „herzensguten“. Mit seiner klangvollen poetischen Sprache hat mich der Autor mitgerissen. Dieser Roman ist nicht unbedingt als Hommage an die Männerwelt zu verstehen, zeichnet er doch auch starke unabhängige Frauen darin. Vielmehr zeigt er mit welcher Unausweichlichkeit Jungen zum „harten Kerl“ geformt werden, mit wieviel Einflüssen und Erwartungen sie konfrontiert sind.

Ein wunderbares Buch über das Menschsein!


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Freitag, 13. Juli 2018
Elizabeth Hartley Winthrop „Mercy Seat“
Wie eine Spirale, in deren Mitte die Hinrichtung eines jungen schwarzen Mannes steht, steuern die Geschehnisse in diesem Roman auf das unweigerliche Ende zu. Die Handlung orientiert sich an einer wahren Begebenheit, die sich in Louisiana zu Beginn der 1940 er Jahre so oder so ähnlich zugetragen haben mag.

Der wegen Vergewaltigung einer weißen Frau zum Tode verurteilte Will möchte seine letzten 24 Stunden auf der Erde möglichst schnell hinter sich bringen. Er hat das Kämpfen längst aufgegeben, ist lethargisch. Die einzige Möglichkeit, die Zeit schneller verrinnen zu lassen, scheint ihm, die Augen zu schließen und an schöne Stunden mit Grace oder an seine Familie zu denken. Die Menschen in der Kleinstadt St. Martinsville sind unterdessen in geschäftigem Treiben. Auch sie bereiten sich mehr oder weniger auf „das große Ereignis“ vor.

In dieser perspektivischen Erzählung hangelt sich der Leser an der Spirale entlang und begegnet dabei den unterschiedlichsten Personen. Während sich zwei Männer in einem Truck und der ungewöhnlichen Fracht, dem „Mercy Seat“, dem elektrischen Stuhl mitsamt Generator dem Gerichtsgebäude der Stadt nähern, transportiert Frank eine Granitplatte mit dem Maultierwagen auf den Friedhof zu. Polly, der Staatsanwalt, hat das Urteil nicht aus Überzeugung getroffen, steht unter Druck, wurde er doch von einer Gruppe wütender weißer Männer dazu genötigt. Seine Frau Nell hat Mitleid mit dem Verurteilten und bereitet für den Jungen die Henkersmahlzeit. Der katholische Pfarrer des Ortes wird Will in seinen letzten Stunden beistehen, droht aber an seinem Zweifel an Gott zu scheitern. Und während dies alles passiert, freundet sich Ora, die Frau des Tankstellenbesitzers mit einem Kind an, einem schwarzen Baumwollpflücker, der sie bald um einen großen Gefallen bitten wird.

Die Gegenwärtigkeit der Geschehnisse macht uns die Autorin sprachlich deutlich mit der Wahl des Präsens. In atmosphärischen Bildern und mit ihrer poetischen Ausdrucksweise, die dem Schrecklichen des Inhaltes in krassem Widerspruch gegenübersteht, katapultiert sie uns mitten hinein in eine Gruppe aufgebrachter Bürger. Sie lässt uns die verschiedenen Meinungen, die in diesem Buch aufeinandertreffen, wie Hass, Vorurteile und das Verständnis vom Töten, aber auch Mitleid und allmähliches Begreifen, emotional verstehen. Seite um Seite, Stunde um Stunde, zieht sich die Spirale enger um den Zeitpunkt der Hinrichtung, der Kloß im Hals des Lesers wächst.

„Er hatte seine Augen offen gehalten und einen Riss in der Wandfarbe fixiert, als ob er durch das Anstarren dieses Punktes irgendwie Halt fände, die Kontrolle behielte, das einzige Bollwerk gegen die tiefe Trauer und die Reue und die Sehnsucht, die ihn so sehr auszehrten, dass sie ihn beinahe zusammenbrechen ließen.“ (Seite 85)

Die Autorin hat den Leser fest im grausigen Griff, entlässt ihn zu keiner Zeit, nicht eine Minute in eine Wohlfühlzone, hält die dichte Atmosphäre bis zum Ende.

Das war in dieser ersten Hälfte des Jahres bereits der zweite Roman um das Thema Todesstrafe. Die Abscheulichkeit dieser Tat ist kaum in Worte zu fassen, erschüttert und lässt traurig und wütend zurück. Gefühlsmäßig an der Grenze des Ertragbaren, möchte ich doch im Nachhinein keines dieser Bücher missen. Lange noch wird mich dieser Roman beschäftigen!


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Donnerstag, 28. Juni 2018
Viveca Sten „Mörderische Schärennächte“
Wer den schwedischen Schärengarten kennt, kann sich die Kulisse dieser Krimireihe gut vorstellen. Kann sich gut hineinfühlen in die Gegend, in der es im Sommer nie richtig heiß wird und nie richtig dunkel wird; wo Möwen kreischen und stets ein leichter Fischgeruch von den Häfen über die Inseln zieht.

Im vierten Fall um den Kriminalkommissar Thomas Andreasson führt uns die Autorin Viveca Sten nicht nur wieder in die idyllischen Schären vor Stockholm, sondern auch in eine Institution, die nach eigenen Regeln und Gesetzen zu funktionieren scheint und nach einem Kodex, der persönliche Stärke, Durchhaltevermögen und bedingungslose Loyalität fordert: dem Militär.

Etwas angeschlagen nach einem Zwischenfall, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte, hat Thomas gerade erst wieder den Dienst aufgenommen. Noch immer quälen ihn heftigste Albträume. Doch gleich an seinem ersten Tag werden er und seine Kollegin ins Studentenwohnheim der Psychologischen Universität gerufen. Der Student Markus Nielsen hat sich in seinem Zimmer erhängt.

Familie und Freunde sind sich einig, dass Markus nie psychisch labil war und zweifeln an der Theorie des Selbstmordes. Es müsse etwas anderes geschehen sein. Nur unter Vorbehalt erhält Thomas von seinem Chef die Erlaubnis, der Sache noch eine Weile nachzugehen. Und bereits einen Tag später wird der schwer kranke Jan Erik Fredell ertrunken in seiner Badewanne aufgefunden. Zunächst ist unklar, was die zwei toten Männer miteinander zu tun haben. Von einer Dozentin erfahren die Polizisten, dass Markus Nielsen vor seinem Tod an einer Hausarbeit zum Thema “Gruppendynamik beim Militär“ schrieb. Im Zuge seiner Recherche befragte der junge Psychologiestudent nicht nur Jan Erik Fredell, sondern auch weitere Männer, die in den siebziger Jahren einer Gruppe Elitesoldaten, den Küstenjägern, angehörten, und öffnete damit die „Büchse der Pandora“.

Bei den Ermittlungen steht Thomas Andreasson wie immer seine Schulfreundin Nora Linde bei. Sie befragt unterdessen auf der Schäreninsel Sandham einen ehemaligen Militärangehörigen, der die eine oder andere Wissenslücke schließen kann.
Die auktorial erzählte Geschichte wird immer wieder unterbrochen von Tagebucheintragungen eines Rekruten, die dem Leser einen erheblichen Wissensvorsprung verschaffen und Stück für Stück das Geschehene vervollständigen.

Bei dieser Krimi-Reihe handelt es sich um locker leichte, gute Unterhaltung mit geschickt durchdachten Kriminalfällen und äußerst sympathischen Protagonisten, deren Privatleben in der Geschichte stets nicht zu kurz kommt. Schon ab dem zweiten Band war ich sozusagen angefixt von jeder einzelnen Figur. Mit einem Quäntchen Liebe und Romantik, aber auch ein bisschen persönlicher Dramatik verschaffte mir der Krimi vergnügliche und kurzweilige Lesestunden. Wenn er auch sprachlich leichtfüßig daherkommt mag, so kann es die Autorin Viveca Sten, was Spannung, Themenauswahl und ausgeklügelte Verbrechen angeht, mit den Großen ihrer Zunft allemal aufnehmen.

Eine unglaubliche Spannung von Anfang bis zum großen Show-down!


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Montag, 25. Juni 2018
Sabrina Janesch „Die goldene Stadt“
Warum nicht einmal das bequeme Zuhause verlassen, um sich auf unbetretene Pfade zu begeben, und sei es nur mit dem sprichwörtlichen Finger auf der Landkarte? Oder eben auf literarischem Wege. Auf alle Fälle aber hat man dann was zu erzählen!

Als im Jahre 1863 ein großes Schiff den Hafen von Lima erreicht, geht ein junger Mann von Bord: August Rudolph Berns. Noch nicht volljährig, hat er die kleine Heimatstadt in Deutschland und sein gesichertes Zuhause verlassen, um sich in Peru auf die Suche nach der goldenen Stadt “El Dorado“ zu machen. Als Sohn einer gutbürgerlichen Familie ist August bereits im Kindesalter von den fremden Kulturen der Südamerikaner, speziell der Inka, fasziniert. Schon damals versucht er sich als Goldwäscher am Rhein. Nach dem frühen Tod des Vaters gerät die Welt des Jungen leicht ins Wanken. An seinem Traum von der goldenen Stadt hält er dennoch fest und wird, anstatt in das Familienunternehmen einzusteigen, seiner „kleinen“ Welt entfliehen. Er packt, an hohem Reisefieber leidend, seinen Rucksack und macht sich auf den Weg zu seinem großen Abenteuer.

Auf dem fremden Kontinent angekommen und noch bevor er sich auf die Suche nach den sagenumwobenen Goldschätzen der Inka begeben kann, kämpft er Seite an Seite mit peruanischen Soldaten im Krieg gegen Spanien. In dieser schweren Zeit hält ihn einzig der Gedanke an seinen großen Traum aufrecht. Später verdingt er sich unter anderem bei der Eisenbahngesellschaft als Landvermesser. In diesen ersten Jahren sieht sich der junge Berns, der sich in seiner neuen Wahlheimat Augusto nennt, mit vielen Rückschlägen konfrontiert. Wie durch Zufall trifft er auf den Amerikaner und Geologen Henry Singer. Von da an geht es bergauf, im wahrsten Sinne des Wortes.

Sabrina Janesch entfacht mit ihrem Roman den Entdeckergeist eines jeden Lesers. Sie beschreibt uns August Rudolph Berns als sympathischen, wenn auch etwas verschlagenen, jungen Mann und lässt uns dessen Kraft und Euphorie hautnah spüren. Mit ihrer bildhaften, lebendigen Sprache lässt sie uns das Abenteuer mit allen Sinnen erleben und den Entdecker Berns auf seinem Lebensweg begleiten. Faszinierend beschreibt sie das stetige Hinfallen und Wiederaufstehen des vor Enthusiasmus strotzenden Abenteurers, der nie den Mut zu verlieren scheint und nach jedem Rückschlag gestärkter und mit noch mehr Elan weitermacht. Fast schon körperlich erleben wir, wie er über eigene Grenzen hinweg geht, Widrigkeiten wie Klima, Krankheit und die Unwägbarkeiten des Dschungels überwindet, um das Unmögliche zu schaffen.

Die Autorin stützt sich auf die neuesten Erkenntnisse eines amerikanischen Historikers, der Beweise dafür fand, dass der deutsche Ingenieur August Rudolph Berns schon vor der offiziellen Erforschung der verlorenen Stadt der Inka, Machu Picchu bereits Jahrzehnte zuvor wiederentdeckt hatte.

Mit dieser spannenden Geschichte, den gut recherchierten Fakten, aber auch mit ihrer humorvollen Art des Erzählens, hat mich Sabrina Janesch in eine faszinierende Welt mitgenommen. Die Karte Perus beifuß und die anschließende Internetrecherche mit beeindruckenden Bildern hat diese „Reise“ für mich zum echten Erlebnis werden lassen.

Ein Muss für alle Abenteurer!



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Freitag, 15. Juni 2018
Håkan Nesser „Der Fall Kallmann“
Leon Berger bricht alle Zelte in Stockholm ab und zieht in die nordschwedische Kleinstadt K. Nach dem Tod von Frau und Kind braucht er einen Neuanfang und ist froh, dass ihn eine alte Bekannte als Schwedischlehrer an die Gesamtschule in K holt. In der Hoffnung, mit dem räumlichen Abstand auch etwas Ruhe in seinen schwermütigen Geist zu bekommen, stürzt er sich in die Arbeit. Leicht hat er es zunächst nicht, ist er doch der Nachfolger des sehr beliebten Lehrers Eugen Kallmann. Der scheint einen ganz besonderen Ruf bei Kollegen und Schülern zu genießen. In der Schreibtischschublade in seinem Büro findet Leon Tagebücher seines Vorgängers. Aus reiner Neugier beginnt er darin zu lesen. Schon bald ist er so gefesselt vom Inhalt, dass er unbedingt mehr über das Leben des älteren Mannes wissen möchte und über sein Sterben. Denn Eugen Kallmann wurde vor einigen Wochen tot in einem leer stehenden Haus im Ort aufgefunden.

Zunächst zögerlich und voller Scham, weil er in fremder Leute Tagebücher schnüffelt, vertraut sich Leon seiner Bekannten Ludmilla und einem anderen Kollegen an. Diese wissen nicht viel über Kallmann zu erzählen, sind sich aber einig, dass er es mit der Wahrheit nicht so genau genommen und oft in Rätseln gesprochen habe. Man ist sich nicht sicher, ob er nicht hier und da auch fiktive Fragmente beim Schreiben untergebracht haben könnte. Schließlich habe er bereits zwei Romane veröffentlicht. Geradezu besessen von diesen rätselhaften Tagebüchern, vertiefen sich die drei also in Kallmanns Leben und stoßen auf eine weit zurückreichende, verwirrende Geschichte. Auch zwei Schüler, Andrea und Charlie, scheinen irgendwie in alles verwickelt zu sein. Aber in was genau eigentlich, das ist hier die große Frage? Dann geschieht ein Mord.

Alle beteiligten Personen erzählen ihre individuelle Geschichte, „des Falls Kallmann“. Erzählen von sich selbst, aus ihrem Leben, was sie von dem talentierten, etwas zurückhaltenden Lehrer hielten und was sie mit ihm verband.

Håkan Nesser ist für mich ein Meister seines Faches. Er hat die Gabe, sich in jede seiner Figuren derart gut hinein zu versetzen, dass wir sie überaus authentisch und glaubwürdig erleben. Das gelingt ihm bei einem 15-jährigen Mädchen ebenso gut wie dem 80-jährigen Greis, einem Mörder oder der Angehörigen eines Opfers. Eine besondere Begabung ist außerdem, den Leser stets ein bisschen hinzuhalten, auf die Folter zu spannen, ihn in die Irre zu führen und lange im Unklaren über das Geschehen zu lassen. Dann kann es vorkommen, dass ich ungeduldig werde, und wenn ich gerade anfange, etwas gereizt darauf zu reagieren, kommt er mit irgendeinem Detail um die Ecke, das mich dann sofort wieder versöhnt; ein kleiner Puzzelstein etwa, manchmal nur ein einziger Satz, eine Bemerkung, ein Gedanke, der mich fasziniert.

Der Autor lässt hier und da einen humorvollen, fast zynischer Blick auf die Welt erkennen, versäumt es aber auch nicht, auf Missstände jeglicher Art in der Gesellschaft hinzuweisen, macht dadurch seinen eigenen Standpunkt deutlich.

„Ich würde mir wünschen irgendwann in meinem Leben an einem Ort leben zu dürfen, an dem ein Mensch aufgrund seiner tatsächlichen Qualitäten und Charakterzüge beurteilt wird, und nicht aufgrund seiner Herkunft. In einer Gesellschaft ohne Angst vor Fremden, ohne wir-und-sie. (Seite 341)

Håkan Nesser hat’s einfach drauf!


Weiteres vom Autor hier im Blog:

Die Lebenden und Toten von Winsford Hörbuch
Himmel über London
Am Abend des Mordes


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