Samstag, 19. Mai 2018
Sarah Schmidt „Seht, was ich getan habe“
In ihrem ersten Roman widmet sich die australische Autorin Sarah Schmidt dem wohl berühmtesten amerikanischen Kriminalfall, dem „Fall Lizzie Borden“. Sie schafft es, mit einem Quäntchen Fiktion gespickt, ein neues Bild auf das grauenhafte Verbrechen am 4. August 1889 zu werfen; lässt die Geschehnisse noch einmal aufleben. Das gelingt ihr so gut, dass es beim Lesen schien, als sei ich hautnah dabei gewesen, manchmal ZU nah. Aber vorerst zur Geschichte:

In einer Kleinstadt in Massachusetts werden der Geschäftsmann Andrew Borden und seine zweite Ehefrau Abby tot in ihrem Haus aufgefunden. Den Leichen brutal zugefügten Verletzungen zufolge wird eine Axt als Tatwaffe in Betracht gezogen. Im Haus sowie im gesamten Ort Fall River bleibt für eine Weile die Zeit stehen, und die ganze Aufmerksamkeit gilt dem toten Ehepaar.

Offene Fragen zum Fall versucht die Autorin anhand fünf beteiligter Personen, der man jeder einzelnen ein Tatmotiv anlasten könnte, zu klären.

LIZZIE BORDEN; die jüngere der beiden Töchter, findet ihren Vater ermordet im Wohnzimmer. Bei der Befragung durch die Polizei benimmt sie sich äußerst merkwürdig, zupft an ihrem Kleid, massiert ihren Kopf, isst unentwegt Birnen und kann sich ein ums andere Mal das Lachen nicht verkneifen. Zunächst bleibt unklar, ob sie unter einem Schock leidet oder ob sie wirklich so abgebrüht ist, wie sie vorgibt zu sein.
EMMA BORDEN, die ältere Schwester, befindet sich zur Tatzeit nicht vor Ort; sie wird rasch nach Hause beordert. Sie war seit dem Tod ihrer leiblichen Mutter Haltepunkt, aber auch Blitzableiter für die jüngere Lizzie. Sie fühlte sich lange schon eingeengt und hätte gerne das Elternhaus schon längst verlassen.
BRIDGET, das Hausmädchen der Familie, stammt aus Irland und fühlt sich als Angestellte im Haus ausgenutzt, schlecht bezahlt. Sie leidet an ständigem Heimweh. Ihre Ersparnisse wurden ihr von der Hausherrin gestohlen.
JOHN, Onkel der beiden Mädchen und Bruder der verstorbenen ersten Mrs Borden, ist am Tag des schrecklichen Zwischenfalls zu Besuch, aber nicht im Haus, als die Morde geschehen. Er sorgt sich angeblich um das Wohlbefinden seiner Nichten, die dem Unbill des strengen Vaters ausgesetzt sind; das Vermögen der Bordens stets im Hinterkopf.
BENJAMIN, der Schurke in diesem Kriminalstück, der mit Sicherheit die größte kriminelle Energie von allen aufweist. Gewaltbereit und auf seinen eigenen Vorteil bedacht geht er durch die Welt und lässt jeden seine Wut spüren, die eigentlich seinem Vater gilt, der ihn, Benjamin, um Liebe und Geborgenheit betrogen hat.

Sie alle kommen zu Wort und erzählen die Geschichte aus eigener Sicht, geben zudem viel Persönliches von sich preis und sorgen dafür, dass der Leser tiefste Einblicke in jeden der Charaktere erhält. Diskrepanzen zwischen Sein und Schein kommen zutage.

Zart besaiteten Lesern sei jedoch verraten: Gespart wird hier nicht mit Beschreibungen grausiger Details wie Erbrochenem, Blutlachen und zerstückelten Leichenteilen, anhand derer Arzt oder Apotheker von jeglicher Nahrungsaufnahme während der Lektüre abraten würden. Gerüche von Hammelbrühe, Schweiß und schlechtem Atem liegen förmlich in der Luft. Mit überaus „lebendiger“ Sprache und zeitgemäßem Ausdruck wird der Leser mit allen Facetten menschlicher Vorstellungskraft ins Ende des 19ten Jahrhunderts katapultieret. Ein zusätzlicher Thrill Effekt entsteht durch Wiederholungen kleinster Zutaten wie: „…und die Uhr auf dem Kaminsims tickte und tickte.“

Ein Krimi in dunkelster Atmosphäre herausragend erzählt und in Szene gesetzt!

Mehr Info
Der wahre Fall


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Donnerstag, 3. Mai 2018
Helmut Krausser „Eros“
An einer Stelle des 2006 erschienen Buches lässt Helmut Krausser den Protagonisten seinem Gegenüber die Frage stellen, was in der Liebe erlaubt sei, ob es verwerflich sei, was er getan habe und ob es eine Ethik in der Liebe gebe. Obwohl es in diesem Roman sicher viel mehr zu diskutieren gäbe, verrät der Autor doch schon im Titel, worum es in erster Linie geht. Abgeleitet vom griechischen Gott der Liebe bezeichnet Eros in der Philosophie die Form starken Begehrens und Verlangens; die Leidenschaft oder begeisterte Liebe (lt wp).

Alexander von Brücken ist der Sohn eines Industriemagnaten. Mittlerweile alt und sterbenskrank hält ihn einzig der Gedanke am Leben, seine Geschichte zu erzählen. Dafür lädt er einen erfahrenen Autoren in seine Villa in der Nähe von München ein. Dieser soll einen Roman daraus machen, die richtigen Formulierungen finden und erlaubt ihm überdies, eine Portion Fiktion und eigene Gedanken mit einfließen zu lassen. Zur Veröffentlichung allerdings solle es erst nach dem Tod Alexander von Brückens kommen.

Innerhalb der nächsten acht Tage erzählt der Adelige also seine Lebensgeschichte. Beginnend damit, wie er als Junge im Zweiten Weltkrieg Sophie im Luftschutzbunker kennenlernt. Ihre Eltern sind Arbeiter in der Firma seines Vaters. Nach einem Kuss, für den Sophie von Alexander 30 Mark verlangt, ist es um den Jungen geschehen. Er hat sich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt. Doch schon bald sind es tragische Umstände, die beide voneinander trennen und aus einer unschuldigen Liebe entspinnt sich für den jungen Alexander von Brücken eine Obsession. Da sich der Wunsch, Sophie möge zu ihm zurückkehren, nicht erfüllt, benutzt er Geld und Einfluss, um sein „Objekt der Begierde“ wiederzufinden. Behilflich dabei ist ihm sein treuer Angestellter und Freund Lukian Keferloher. Zu erfahren, dass sie ein eigenes Leben führt, ihn nach Jahren noch nicht einmal mehr wiedererkennt, lässt seinen Liebeswahn ins Unermessliche wachsen. Fortan beschließt er, in jeder Zeit seines Lebens genau darüber im Bilde zu sein, wo Sophie sich befindet und wie es ihr geht. Ja, er greift sogar in ihr Leben ein. Unter dem Deckmantel des guten Samariters lauert Egozentrik, Machtgier, aber auch Einsamkeit und Elegie.

Ohne den genaueren Begebenheiten vorzugreifen, kann ich doch sagen, dass uns diese Geschichte durch die letzten 60 Jahre des 20. Jahrhunderts führt. Nachkriegszeit, wirtschaftlicher Aufschwung in Deutschland, Gründung der DDR, erste Protestbewegungen bis hin zu terroristischen Aktivitäten und der allgemeine Wunsch nach Selbstverwirklichung dienen Helmut Krausser als Kulisse. Im Vordergrund drei Figuren, die ihre Möglichkeiten nicht oder falsch zu nutzen wissen. Alexander, der millionenschwere Industrielle, der Macht und Geld dazu verwendet unsichtbare Fäden in der Hand zu halten; Sophie, die sich für Freiheit und Unabhängigkeit entscheidet und letztendlich nicht damit umgehen kann; und Lukian, der sich zeitlebens im für ihn sicheren Schatten Alexanders bewegt.

Das herausragende an diesem sehr spannenden Roman ist für mich nicht nur die fantastische, poetische und gehobenen Sprache (eloquent wäre wohl der richtige Ausdruck), sondern ebenso die Vielzahl der Perspektiven und Quellen. Der Text setzt sich aus Fragmenten der beiden Icherzähler, des Schreibenden und seines Auftraggebers Alexander, aus Abhörprotokollen und Tagebucheintragungen zusammen. Ein auktorialer Erzähler vervollständigt das Ganze.

Die Charaktere sind auf den ersten Blick keinesfalls Sympathieträger. Fällt es auch manchmal schwer, ihr Verhalten nachzuvollziehen, so habe ich zu allen doch am Ende eine gewisse Zuneigung entwickelt, und war schließlich fähig (ich hoffe das spricht jetzt nicht gegen mich) deren Handlungsweisen und Entscheidungen zu verstehen. Denn letztendlich sollte uns allen doch nichts Menschliches fremd sein!


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Donnerstag, 26. April 2018
Virginia Reeves „Ein anderes Leben als dieses“
Alabama in den 20er Jahren

Es gab eine Zeit, da waren sie glücklich, Roscoe T. Martin und seine Frau Marie. Da führten sie lange Gespräche über Pflanzen und Vögel. Nach ausgedehnten Spaziergängen lasen sie gerne in ihren Büchern oder tanzten umschlungen im Wohnzimmer.

„Hast du schon mal so tolle Musik gehört?“ Zu diesem Lied waren wir durch das Zimmer getanzt, und sie hatte den Kopf an meine Brust gelegt, wie sich das gehört. „Es heißt ‚The World is waiting for the Sunrise‘ „ erklärte sie. „Kannst du die Sehnsucht hören?“ „Ja.“ Ich kann sie hören. (Seite 298)

Später wird Roscoe T. Martin die Sehnsucht nicht nur hören können, sondern tief in seinem Inneren spüren. Aber dazu später mehr.

Zu Beginn des Romans steckt die Ehe bereits in der Krise. Roscoe hätte lieber, seiner Passion folgend, die Anstellung als Elektriker in der Stadt behalten. Stattdessen soll er die Farm seiner verstorbenen Schwiegereltern bewirtschaften. Marie hält ihren Mann für faul und unfähig und widmet sich ganz dem gemeinsamen Sohn. Alle Bemühungen, die Farm rentabel zu machen, scheitern. Dann kommt Roscoe die zündende Idee: mit dem schwarzen Hilfsarbeiter Wilson, der mit seiner Familie das kleine Haus am Rande der Felder bewohnt, zapft er die Stromleitungen der Alabama Power Company an und versorgt so die Farm mit Strom; illegal natürlich. Voll elektrifiziert gelingt der wirtschaftliche Aufschwung, der beiden Familien zu einem besseren Leben verhilft. Für eine kurze Zeit sieht es aus, als seien alle Probleme der Vergangenheit vergessen. Und dann stirbt ein junger Elektriker an den Folgen eines Stromschlags. Der Verantwortliche ist schnell gefunden. Roscoe T. Martin wird des Mordes beschuldigt, verurteilt und in ein Gefängnis überstellt. Für Wilson allerdings gelten andere Gesetze. Er wird als Arbeiter an eine Kohlemine verkauft.

Roscoes Vergehen hat indes weit reichende Folgen für beide Familien und führt zu tiefem Leid eines jeden einzelnen von ihnen. Die beiden Frauen bleiben nun für viele Jahre mit ihren Kindern alleine, Marie plagt sich mit schweren Schuldgefühlen, von Wilson selbst fehlt nach der Verhandlung jede Spur und Roscoe T. Martin droht an der Sehnsucht nach seiner Familie und der Ungewissheit, was mit seinem Freund geschehen ist, zu zerbrechen.

Ein beeindruckender Südstaatenroman. Bei aller Dramatik ist der texanischen Autorin Virginia Reeves ein ruhiger unaufgeregter Roman mit leisen Tönen gelungen, den wohl kaum jemanden unberührt lassen wird. Mit gefühlvoller, teils melancholischer Stimme erzählt sie die Geschichte und lässt den Protagonisten in längeren Passagen vom Leben in Gefangenschaft ausführlich berichten. Wir erleben die Zeit im Gefängnis hautnah mit und teilen Gedanken und Gefühle des Verurteilten. Erlaubt man sich tief in die Geschichte hinein gleiten zu lassen, wird man nicht nur mit deutlichen Bildern vor dem inneren Auge belohnt. Man spürt geradezu die flirrende Hitze Alabamas, schmeckt den Staub der Wege, die die Felder säumen, meint das Knistern der ersten elektrischen Leitungen zu hören und atmet aber auch die stickige Luft in einer kargen Zelle.

Ich ließ mich entführen in ein Land, dessen Gesetze mir wohl immer unverständlich bleiben werden, hat es doch lange an der Rassentrennung festgehalten und vollstreckt bis heute die Todesstrafe. Ich war mitgenommen in eine Zeit, die weit vor meiner liegt, in ein Leben, das durch harte Arbeit und höchste soziale Ungerechtigkeit geprägt ist. Zurückgekommen, bin ich dankbar im Hier und Jetzt zu sein und brauche eine Weile, bis ich für das nächste Buch bereit bin.

Ein weiteres großartiges Debüt in diesem Frühjahr!



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Dienstag, 10. April 2018
Tommi Kinnunen „Wege, die sich kreuzen“
Ausgehend vom Jahr 1895 erzählt der finnische Autor Tommi Kinnunen eine Familiengeschichte über mehrere Generationen. Im Vordergrund stehen drei starke Frauen, die jede für sich auf ihre Art ihren eigenen Weg zu finden sucht.

Beginnend mit Maria, die sich in einem kleinen Ort in Finnland als erste Hebamme etabliert. Gegen alle Widerstände der Gesellschaft und der allgemeinen Meinung, was Frauen zu tun und zu lassen haben oder wie sich Frauen benehmen sollten, macht sich Maria einen Namen als Geburtshelferin; weit über die Grenzen des Dorfes hinweg. Die junge Frau befreit sich von allen Konventionen, ist selbstständig in ihrem Beruf, zieht ihre Tochter Lahja alleine auf und schafft sich mit dem Anbau ihres Hauses ein sicheres Nest. Und, obwohl auch das sich für eine Frau nicht ziemt, entledigt sie sich bald ihres Korsetts, um mit dem Fahrrad als mobile Hebamme unterwegs zu sein.

Erwachsen geworden gilt Lahja ebenfalls als besonders unangepasste Person, hat sie doch Eigenwille und Selbstständigkeit von ihrer Mutter gelernt. Auch sie wird früh schwanger, der Vater des Kindes setzt sich aber noch vor dem Krieg nach Amerika ab. Fast widerwillig, aber um nicht wie ihre Mutter ein Leben lang ohne Mann zu bleiben, heiratet sie den schüchternen Onni. Dieser erweist sich als guter Ehemann. Er nimmt nicht nur Anna als sein eigenes Kind an, sondern unterstützt auch seine Frau bei dem Wunsch Fotografin zu werden. Später wird es ein kleines Atelier im Haus geben. Doch dann beginnen der Krieg und eine schwierige Zeit. Nach der Evakuierung und der Zerstörung des gesamten Ortes ist es Onni, der 1946 das Heim der Familie tatkräftig wieder aufbaut. Noch drei weitere Kinder wird das Ehepaar in den nächsten Jahren bekommen und mit jedem wächst das Haus. Gleichsam aber entfernen sich Lahja und Onni voneinander.

Mitte der 1990er Jahre ist es Kaarina, die Schwiegertochter, die sich ihren Platz im Leben hart erarbeiten muss. Neben den Kindern und dem großen Haus, das Jahr um Jahr an Größe zugenommen hat, kümmert sie sich um die kranke Lahja. Dieser fällt es schwer, sich nicht in das Leben der jungen Leute einzumischen und führt nach wie vor ein strenges “Regiment“. Am Ende eines schwierigen Lebens droht sie ein Familiengeheimnis mit ins Grab zu nehmen, fände Kaarina nicht die alten Briefe ihrer Schwiegereltern auf dem Dachboden.

In größeren zeitlichen Abständen wird uns hier eine äußerst interessante Geschichte erzählt, die über 100 Jahre hinweg reicht. Der Autor nimmt den Leser mit in die Tiefe einer ungewöhnlichen Familie. Ein großes Geheimnis allerdings, obwohl immer wieder angedeutet, wird erst im letzten Viertel des Romans offenkundig.

Sprachlich war ich doch etwas enttäuscht, und so interessant das Erzählte auch ist, so verliert sich der Autor oft in langen detailreichen Erklärungen und unnützen Dialogen, die mich das ein oder andere Mal gedanklich haben abschweifen lassen. Dennoch konnte ich am Ende über diese kleinen Schwächen hinwegsehen und das Buch als Zeugnis eines Jahrhunderts in Finnland und ein Plädoyer für Frauen empfinden, die schon in früheren Zeiten für ihre Rechte und ein selbstständiges Leben eingetreten sind.


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Donnerstag, 22. März 2018
Jan Seghers „Menschenfischer“
Der Anruf erreicht Kriminalkommissar Robert Marthaler zuhause während seines Urlaubs. Ein ehemaliger Kollege bittet ihn um Hilfe bei einem nie vergessenen Fall. Rudi Ferres ist längst in Pension und lebt in bescheidenen Verhältnissen in Südfrankreich. Jeder im Polizeipräsidium Frankfurt kann sich an dessen Engagement im Fall des ermordeten Jungen vor 20 Jahren erinnern. Das besonders scheußliche Verbrechen, Tobias Brüning wurde die Kehle durchtrennt und die Geschlechtsteile mit einem Messer entfernt, konnte nie aufgeklärt werden. Rudi Ferres war damals physisch und psychisch daran zerbrochen.

Es haben sich neue Beweismittel ergeben und er sei auf eine neue Spur gestoßen, berichtet Ferres nun Marthaler und bittet ihn, sich auf den Weg nach Südfrankreich zu machen. Mit gemischten Gefühlen, aber auch froh seinen privaten Problemen aus dem Weg gehen zu können, fährt dieser in den sonnigen Süden. Und während er sich dort mit seinem alten Kollegen und den alten Akten des Mordfalls auseinandersetzt, geschehen in Frankfurt Verbrechen, die auf den ersten Blick nichts mit alledem zu tun haben.

In einem angesagten Restaurant kommt es zu einer Schießerei, bei der ein Anwalt und zwei Frauen, die man zunächst nicht identifizieren kann, ums Leben. Etwa zur gleichen Zeit tauchen am Rande Hessens, an einem alten Hof, der früher einer Hippie-Kommune gehörte, zwei Jungen auf. Wie die Besitzerin des alten Gemäuers später erzählt, haben die beiden nur wenig Deutsch gesprochen und sich auf merkwürdige Weise verhalten. Es habe sich vermutlich um Brüder gehandelt.

Wer die Reihe des Frankfurter Autors Jan Seghers kennt, der weiß, dass dieser sich stets an wahren Begebenheiten orientiert. Auch dieser Mord an einem Jungen hat sich ähnlich vor etwa 20 Jahren zugetragen. Gerade diese Nähe zur Realität macht diese Krimis aus; macht sie interessant, aber auch grauenhaft und schrecklich. Zwischen all diesen Abscheu erregenden Taten und der diffizilen Polizeiarbeit, weiß Jan Seghers gut zu unterhalten. Mit sympathischen Charakteren und teilweise witzig spritzigen Dialogen unterbricht er das Entsetzliche der Tat. Das hilft ein wenig den hier nötigen emotionalen Abstand zu schaffen, der unglaublichen Spannung dieses Krimis kann der Leser aber trotzdem nicht entgehen. Geschickt und hervorragend ausgeklügelt führt uns der Autor durch die Story und hält uns bis zum Schluss in Atem.

Für mich sind Jan Seghers Krimis nicht nur wegen der regionalen Nähe ein absolutes Muss!

Für mehr Info und einer weiteren Rezension:

Der wahre Fall
Die Sterntaler Verschwörung
Der Autor aus meiner Sicht


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Samstag, 17. März 2018
Madame Nielsen „Der endlose Sommer“
In dem einsam gelegenen Gutshaus in Dänemark lebt eine fünfköpfige Familie. Ein Ehepaar, das sich offensichtlich nicht mehr viel zu sagen hat, die gemeinsamen Söhne, beide noch sehr klein und die jugendliche Tochter der Mutter aus einer früheren Beziehung. Die Tage schleppen sich so dahin, haben ihren eigenen Rhythmus. Der Vater geht morgens zur Jagd, um abends ohne Beute heimzukehren, die Mutter bringt die Kleinen zum Hort und genießt es mit ihrem Pferd durch die Felder zu reiten. Die Tochter verbringt die Stunden nach der Schule mit ihrem Freund, der schon bald ein Teil der Familie ist. Abends wird gemeinsam gegessen.

Nach und nach finden sich zwei junge Männer aus Portugal und ein weiterer Junge aus Dänemark in die kleine Gutsgesellschaft ein. Genau hier beginnt „Der endlose Sommer“, der bis weit über den Winter hinweg andauern wird. Die Autorin und Künstlerin spricht hier weniger von einer Jahreszeit, denn einer Zeitspanne, in der die Zeit stehen bleibt und sämtliche Regeln und Grundsätze des Miteinanders in Begriff sind umzustürzen. Die Mutter verliebt sich in den viel jüngeren portugiesischen Maler und beginnt bald eine leidenschaftliche Affäre. Der Stiefvater verschwindet und die Tochter, die eigentlich im Mittelpunkt für die jungen Männer stehen sollte, fühlt sich unbeachtet und reagiert eifersüchtig auf ihre eigene Mutter, die doch so viel schöner ist als sie selbst. Alles scheint im besagten „Sommer“ Kopf zu stehen.

Erzählt wird dieser Roman überaus kunstvoll. Man könnte den Text mit einem Gemälde vergleichen, auf dem die Farben verschwimmen, Konturen undeutlich bleiben und man länger hinschauen muss, um das Eigentliche darin zu erkennen. So endlos wie der Sommer sind Madame Nielsens Sätze. Oft gehen sie über Seiten hinweg, ohne Punkt und ohne scheinbar einen Sinn zu ergeben. Sie bestehen aus Einschüben, näheren Erklärungen, schnell noch Erinnertes oder zwischendurch Erwähntes und blieben für mich oft unverstanden. Das beinahe atemlose Erzählen hat mich rasch zermürbt. Auch hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich mich in die doch spezielle Art der Sprache eingelesen hatte. Anhand der vielen „Vielleichts“ und „Oders“ ist nie wirklich klar, ob „der endlose Sommer“ sich genau so zugetragen hat. Am Ende, ich muss es gestehen, ist zu meinem Erstaunen eine schlüssige Geschichte sichtbar geworden. Oder vielleicht auch nicht? ;-)

Wenn auch auf eine gewisse Weise faszinierend, war dieses Buch nicht wirklich etwas für mich. Mag sein, dass mir hier doch die künstlerische Ader fehlt. Ich kann nur jedem raten, vor der Lektüre eine Leseprobe vorzunehmen.


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Montag, 5. März 2018
Mareike Fallwickl „Dunkelgrün fast schwarz“
Wie oft im Leben schweigen wir, wo wir eigentlich reden müssten? Doch gerade die Dinge, die wir nicht sagen, um andere zu schützen oder weil wir selbst die Konsequenzen dessen nicht tragen wollen, entpuppen sich nicht selten als die wichtigsten. Die Autorin Mareike Fallwickl zeigt uns aber eine weitere Möglichkeit des Ausdrucks. In ihrem Debütroman ist alles Farbe, Geräusch, Geruch, Spürsinn und Gefühl. Mit allen Sinnen, mit Verstand und vor allem mit viel Herz erzählt sie die Geschichte einer verhängnisvollen Freundschaft.

Als Vierjährige begegnen sich Raffael und Moritz auf dem Spielplatz eines Bergdorfes in Österreich. Beide sind auf ihre Art anders, außergewöhnlich (dem Wie und in welchem Maße möchte ich hier nicht vorgreifen) und so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Der eine kühl und berechnend, der andere ängstlich und sensibel. Vielleicht gerade wegen dieser Ungleichheit docken sie nahezu aneinander an und bilden auf Anhieb ein untrennbares Gespann. Auch deren Mütter, die sich beide im Ort nicht recht wohl fühlen können, scheinen sich gesucht und gefunden zu haben. Marie allerdings, und davon ist sie mehr und mehr überzeugt, glaubt in Raffael nicht den besten Umgang für ihren Sohn Moritz gefunden zu haben; ist fähig hinter seine Fassade zu schauen.

Einige Jahre später findet sich Johanna als letztes Puzzelteil in die Gemeinschaft ein. Mit ihrer tiefen Traurigkeit, die sie durch Coolness zu verstecken sucht, passt sie hervorragend in den Bund der Freunde. Die drei Jugendlichen bilden fortan ein Dreieck, an dessen Spitze sich Raffael zu positionieren versteht. Es entsteht eine Dynamik, in der jeder von ihnen seinen Platz findet. Als vierte im Bunde, wenn auch etwas außerhalb, steht Moritz‘ Mutter Marie, die sorgenvoll die Entwicklung der drei Jugendlichen verfolgt. Sie hat aber auch selbst eine Geschichte zu erzählen, ihre Geschichte und fragt sich bald, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

„Ein Zorn, den man nicht haben darf, der einem vom anderen aberkannt wird, ist kühl und blau und halbflüssig, er hat eine Konsistenz wie Pudding, füllt den Kopf aus und das Herz.“ (Seite 118)

2017: 16 Jahre sind vergangen, als alle wieder aufeinander treffen und zunächst scheint es, als habe der Zusammenhalt von damals nicht an Kraft verloren. Doch dann verändert sich etwas, lange Verschwiegenes wird endlich ausgesprochen und die Vergangenheit vermischt sich mit der Gegenwart.

Die Autorin nimmt den Leser mit auf eine Reise, die man, hat man sie erst einmal angetreten, nicht mehr unterbrechen will. Die Neugierde auf das Ziel dieser Reise wird übermächtig und schon lange nicht mehr hat mich ein Roman in diesem Maße in Anspruch genommen, zeitlich und vor allem emotional. Das “Spiel“ der Protagonisten, dass sich um Liebe, Sehnsucht, Zusammenhalt, aber auch um Machtausübung und Manipulation rankt, ist überaus fesselnd und spannend beschrieben. In jede der Figuren wird tief hineingeschaut, tief hineingefühlt und uns nahe gebracht, wie und wodurch diese Menschen geworden sind, wie sie sind.

Mareike Fallwickl wechselt die Zeitebenen ebenso wie die Perspektiven. Ihre Sprache ist Lyrik, Musik, ist wie ein Fluss, der jeden Leser mit sich reißt.

„In der Nacht ist das Sehnen am größten. Es schwebt. Es wartet und gleitet und tropft. Lauwarme, speichelförmige Tropfen lässt es auf Jo fallen, bis sie bedeckt ist mit einem Netz aus Nässe und Drängen. […] Das Sehnen ist stark, und wenn Jo einschläft, sich fortgräbt vom Speichelregen, kann es sein, dass das Sehnen sie würgt.“ (Seite 51)

Glückwunsch zu diesem absolut gelungenen Romandebüt!


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Freitag, 16. Februar 2018
Bianca Bellová „Am See“
Man könnte sich den kleinen Fischerort im Osten Europas ausgesprochen idyllisch vorstellen. An einem klaren See gelegen, umrahmt von Wiesen und Bäumen in frischer sauberer Luft. Man könnte sich Kinder vorstellen, glücklich, von den Eltern behütet und eingebunden in die Dorfgemeinschaft, planschend im kühlen Nass.

Bianca Bellová allerdings zeichnet hier ein anderes Bild. Der See ist nur mehr eine ausgetrocknete Kloake, der Gestank einer Fischfabrik liegt in der Luft, Kinder, die nach einem Bad im See juckende Ausschläge davontragen und manchmal auf ihrem Schulweg von den russischen Soldaten belästigt werden. Die sowjetischen Besatzer haben die leer stehenden Plattenbauten am Rande der kleinen Gemeinde bezogen. Die Menschen leben in einem Milieu, das durch Armut, Unterdrückung und zerstörter Natur bestimmt wird. Halt finden sie in ihrem alten Aberglauben an einen Seegeist, der gefüttert und besänftigt werden will.

An diesem scheinbar hoffnungslosen Ort wächst Nami auf, in ärmsten Verhältnissen bei seinen Großeltern. Von einem Vater weiß man nichts, die Mutter eine Hure, so sagen es die Leute im Dorf. Er selbst hat nur eine vage Erinnerung an sie. Als der Großvater vom Fischfang nicht zurückkehrt und seine Großmutter stirbt, macht sich Nami auf in ein eigenes Leben. Er will seine eigene Bestimmung finden und vor allem auf die Suche nach seinen Wurzeln gehen. Doch die Misshandlungen und schlechten Lebensbedingungen der Kindheit haben ihre Narben hinterlassen. Auf dem Weg in die Hauptstadt ist sich Nami sicher, Boros und seine große Liebe Zasa nie mehr wieder zu sehen.

Der Leser macht sich mit dem Protagonisten und der leisen Hoffnung auf den Weg, dass sich das Schicksal des Jungen wenden möge und ihm eine bessere Zukunft beschert. Es wird eine Coming-of-Age Geschichte der dramatischen Art erzählt, in dunkler desillusionierter Atmosphäre und einer von den Menschen zerstörten Kulisse.

Die Autorin hat den Text in Präsenz verfasst, die einen emotionalen Abstand zur Figur und dessen Werdegang nicht zulässt. Hautnah gehen wir jeden Schritt mit, jede Regung, sehen mit den Augen Namis. Und was wir sehen und fühlen ist manchmal schier unerträglich. Gerne hätte ich eine gewisse Distanz zwischen mich und das Gelesene gelegt; mal abgestoßen und mal gefesselt. Die harsche schonungslose Sprache macht nur allzu deutlich, in welch einem Umfeld wir uns hier befinden. Beleuchtet werden die ersten 18 Jahre eines Jungen, der auszubrechen versucht und ein neues Lebensskript zu schreiben. Erzählt wird von diesem Erwachsenwerden in einer Welt, die nicht viel bereithält für einen wie ihn.

Der Inhalt des Buches ist erschütternd und schwer verdaulich. Die Frage ist nun, ob ich diesen Roman empfehlen kann. Nun, uneingeschränkt sicherlich nicht. Wer in einem Buch Entspannung, eine schöne Welt und Leichtigkeit sucht, für den wird es nicht das Richtige sein. Für andere aber, die das kuschelige Sofa für den Blick über einen Tellerrand, der nichts Gutes verheißt, zu verlassen bereit sind, dem sei der Roman der tschechischen Autorin an Herz und Nieren gelegt. Er lässt mich traurig und nachdenklich zurück!


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Dienstag, 13. Februar 2018
Mariana Leky „Was man von hier aus sehen kann“ Hörbuch
gelesen von Sandra Hüller

Der Roman erzählt die Geschichte von Luise. Sie wächst behütet in einem kleinen Dorf im Westerwald auf. Da der Vater oft auf Reisen ist, wird ihre Großmutter Selma zu ihrer Bezugsperson. Selma wird im Ort als eine Art Hellseherin betrachtet. Wann immer Selma von einem Okapi träumt, wird in den nächsten 24 Stunden jemand aus der Dorfgemeinschaft sterben. Also ist die Aufregung groß, als eines Morgens die Nachricht die Runde macht, dass Selma das besagte Tier in der Nacht auf der Wiese hat stehen sehen. Alle sind in hellem Aufruhr und die Stunden werden gezählt. Der Leser, wie auch die Dorfbewohner, begleiten Luise auf ihrem manchmal holprigen Pfad ins Erwachsenwerden.

Die Geschichte gleicht einem modernen Märchen. Sie ist ein Sammelsurium an Kuriositäten. Da versinnbildlicht der Hund die Schmerzen des Vaters, ein anderer stolpert, als seine inneren Stimmen durcheinander reden, Hochsitze werden angesägt und später mit Klebestreifen zusammengehalten, buddhistische Mönche streifen durchs Dickicht. Die Figuren in Mariana Lekys Roman sind allesamt etwas wunderlich und vielleicht gerade deshalb liebenswert und sympathisch. Jedem von ihnen wird ein eigener, teilweise skurriler Charakterzug zugeordnet. Die einen leiden unter „Verstockung“, anderen macht ihr „Aufhocker“ zu schaffen und es werden „Dinge gedacht, die nicht zusammengehören“.

Und obwohl ich solcherlei Absurditäten, schräge Typen und Geschichten ansonsten sehr mag, war es mir hier zu viel. Gerade die Besonderheit nutzte sich meiner Meinung nach durch die vielen Wiederholungen schnell ab. Gefühlt in jedem dritten Satz die Worte „der Optiker“, “der Zwilling, der nicht der Postbote war“ oder nach dem zehnten vorgetragenen Briefanfang war ich dann doch irgendwann etwas entnervt.

So ungewöhnlich wie Inhalt und Sprache empfand ich die Lesart Sandra Hüllers. Dennoch könnte ich mir niemanden vorstellen, der dieser Geschichte eher entsprechen würde. Die Art der Betonung machte das Hörbuch auf seine Weise komplett, so dass ich nicht sagen könnte, wie ich es Print gelesen empfunden hätte. Auch hat mich die Erzählperspektive etwas durcheinandergebracht, wenn die Ich-Erzählerin Luise zwischendurch als auktoriale (allwissende) Erzählerin fungiert.

Letztendlich war der Roman für mich persönlich nicht das einzigartige Hörvergnügen, das ich mir davon versprochen hatte!


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