Samstag, 3. Juni 2017
Bernhard Aichner „Totenfrau“ Hörbuch
gelesen von Christian Berkel

Rạ·che: Substantiv [die], Vergeltung für eine (als böse empfundene) Tat.
"an jemandem für etwas Rache nehmen"


Das hat auch Brünhilde Blum, genannt Blum, im Sinn. Lange hat es gedauert, es war einiges passiert und schwere Zeiten lagen hinter ihr, bis die junge Frau endlich ihr Glück finden sollte. Mit dem Polizisten Mark hatte sie die Liebe ihres Lebens gefunden. Schnell hatten sie erkannt, dass sie zusammen gehörten, recht bald geheiratet und Kinder bekommen. Sie waren ein eingeschworenes Team, Blum übernahm das Bestattungsunternehmen ihrer Eltern und Mark sorgte als Kommissar für Recht und Ordnung. Mit dem Tod hatten also beide in mancherlei Hinsicht zu tun.

Und dann reißt ihr ein Verkehrsunfall ihren geliebten Mann aus dem Leben. Zunächst gibt sich Blum völlig der Trauer hin, wird es nicht schaffen ohne die Hilfe ihres Schwiegervaters und des Angestellten. Immer wieder geht sie Situationen und Begebenheiten im Kopf durch, möchte sich an alles erinnern, und als sie schon denkt, alles zu verlieren, hört sie Marks Stimme auf dem Diktiergerät seines Handys. Ganz fasziniert von diesem Fund hört sie noch eine andere Stimme, die einer Frau, die ihrem Mann eine unglaubliche Geschichte zu erzählen weiß. Bald darauf scheint sich eine neue Wahrheit aus allem zu ergeben: wenn es kein Unfall war, der Mark getötet hat, dann war es Mord!

Und jetzt sinnt Brünhilde Blum auf Rache!

Soweit so gut zum Inhalt des Hörbuchs, der erste Teil einer Trilogie, der mich zunächst mit seiner Andersartigkeit schnell in Bann gezogen hat. Eine ungewöhnliche Protagonistin mit einem ungewöhnlichen Beruf, die zu einer brutalen Mörderin wird und dennoch die Sympathien des Lesers auf ihrer Seite hat. Die Sprache des Autors, die kurz, knackig und brisant Geschwindigkeit, Spannung und Emotionen transportiert. Und der Vorleser, Christian Berkel, der all das hervorragend umzusetzen weiß. Und die Ereignisse, die sich förmlich überschlagen….

Aber so schnell die Begeisterung begonnen hatte, ließ sie nach einigen Stunden des Hörens auch wieder nach. Zu bestialisch und blutig waren mir die Racheszenen beschrieben, gern hätte ich auf Zerstückelung, abgehackte Köpfe und nähere Beschreibung von Exkrementen und Säften verzichtet. Es werden wirklich alle Sinne gefordert! Der eigenen Fantasie aber lässt der Autor Bernhard Aichner nur sehr wenig Raum. Obwohl er sparsam mit Worten umgeht, seine Sätze nur aus Fragmenten bestehen, sind die Ekelszenen einfach zu deutlich hervorgehoben. Hier wäre weniger mehr gewesen!

Wahrscheinlich habe ich hier das Genre „Thriller“ für mich gewaltig unterschätzt; vielleicht hätte ich es mehr als satirische Krimikomödie ansehen sollen; oder aber, unter Umständen, bin ich einfach zu alt und eine Spur zu empfindlich für solche Bücher! ;-)



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Mittwoch, 10. Mai 2017
E. O. Chirovici „Das Buch der Spiegel“ Hörbuch
gelesen von Jonas Nay, Stephan Kampwirth, Volker Lechtenbrink, Sebastian Rudolph und Sascha Rotermund

Was ist mit Prof. Joseph Wieder passiert? Diese Frage zieht sich durch den gesamten Roman. In den achtziger Jahren galt er als Koryphäe seines Studienfaches für Psychologie und war an der Universität Princeton tätig. Doch dann 1987 wurde er tot in seiner Villa aufgefunden; brutal erschlagen. Also was war damals geschehen?

30 Jahre später nun taucht ein Manuskript bei einem Verleger auf, geschrieben von einem damaligen Studenten Prof. Wieders. Richard Flynn katalogisierte für den Psychiater den Bestand seiner umfangreichen Bibliothek und schildert, wie er den Mann, zu dem alle aufschauen, kennen gelernt hatte. Seine Erzählung endet abrupt vor dem Auffinden des Toten. Aufschluss über die Geschehnisse können aber auch die Aufzeichnungen nicht geben, ganz im Gegenteil, sie werfen immer noch mehr Fragen auf. Denn der größte Teil des Manuskripts fehlt.

Ein Journalist wird beauftragt sich der Sache anzunehmen und nach der verschwundenen Fortsetzung zu suchen und im Fall Prof. Wieders zu recherchieren. Er beginnt Personen in direktem Umfeld des Psychiaters zu befragen und stößt auf die unterschiedlichsten Meinungen und Darstellungen der Vorkommnisse, die es ihm unmöglich machen die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden. Was genau ist die Wahrheit? Wie viel ist die Wahrheit wert? Wer kennt die Wahrheit und wer verschweigt sie?

Auch der Leser stellt sich bei diesem überaus spannenden Krimi die gleichen Fragen. Von den zahlreichen Befragten erfährt man gerade so viel, um ein klein wenig aufgeklärt und trotzdem im Unklaren gelassen zu werden. Und jeder von ihnen scheint ein Experte darin, einen anderen anzuschwärzen und sich selbst aus der Affäre zu ziehen.

Überaus geschickt setzt der Autor hier ein Puzzle zusammen, das selbst den pfiffigsten Krimileser an seine Grenzen bringt. Denn gerade in dem Moment, in dem man glaubt endlich etwas begriffen zu haben, tauchen neue Erkenntnisse auf, neue Erinnerungen und zuvor verborgene Details. Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt und mit unterschiedlichen Stimmen gelesen, die die einzelnen Wahrheiten und Meinungen verdeutlichen.

E. O. Chirovici überrascht hier mit einem etwas anderen Konzept, an einen Mord, einen Kriminalfall, heranzugehen. Und überrascht damit, eine unglaubliche Spannung bis zum Ende zu halten.

Also: Einmal tief durchatmen und nichts wie ran an dieses Hörbuch!


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Dienstag, 25. April 2017
Drüber gelesen: Verfilmung “Gleißendes Glück“
Fast 17 Jahre ist es jetzt her, dass ich den Roman “Gleißendes Glück“ von A.L. Kennedy gelesen habe. Nicht unbedingt viele Einzelheiten waren mir in Erinnerung geblieben, aber ein ungutes schweres Gefühl und die Gewissheit, dass es um Gewalt in einer Ehe ging. Wie und ob die Protagonistin einen Weg aus ihrem Gefängnis gefunden hat, hätte ich heute nicht mehr sagen können.

Und dann lese ich vor ein paar Wochen bei den Kinotipps meine TV-Zeitschrift einen Artikel über die Verfilmung eben diesen Romans. So bedrückend und beklemmend das Lesen des Buches damals für mich war, wusste ich doch sofort, dass ich diesen Film unbedingt haben musste. Gestern nun habe ich mir ihn angeschaut und bin froh, es getan zu haben. Denn wie der Titel schon verheißt, geht es nicht nur um Gewalt und Unterdrückung, sondern eben auch um das kleines Quäntchen Glück, dass uns Menschen manchmal zuteil wird. Da muss ich mich wohl selbst fragen, warum mir genau dieses Detail in meiner Erinnerung verborgen geblieben war.

Mit der wunderbaren Martina Gedeck und Ulrich Tukur in den Hauptrollen grandios besetzt ist der Film, wie eben auch der Roman, absolut empfehlenswert!


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Montag, 10. April 2017
Takis Würger „Der Club“
Nachdem Hans seine Eltern verloren hat, er danach eine Zeit lang im Internat verbringt, holt ihn seine Tante Alex nach England und beschafft ihm einen der begehrten Studienplätze in Cambridge. Sie brauche seine Hilfe, hatte sie gesagt, als sie nach Monaten Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Aber auch in Cambridge bleibt Hans vorerst einsam, denn Alex‘ Fürsorge gestaltet sich anders, als es sich der junge Mann vorgestellt hat. Zunächst fühlt Hans sich fremd in dieser für ihn neuen Welt, doch dann tritt er dem dortigen Box-Club bei und findet Anschluss zu anderen Studenten.

Über die unterschiedlichsten Beziehungen, die seine Tante spielen lässt, wird “der Deutsche“, wie man ihn nennt, in den berühmten Pit Club aufgenommen; eine der vielen sogenannten Bruderschaften. Und schon bald findet Hans sich in einer elitären und überaus snobistischen Gesellschaft wider. Er, ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen inmitten reicher junger Männer, die allesamt anderes im Sinn haben, als zu studieren. Gerade als er denkt, wirklich Freunde gefunden zu haben und irgendwie dazu zu gehören, erfährt er von einem Verbrechen, dass dort verübt wurde und bei dessen Aufklärung er behilflich sein soll.

Aus verschiedenen Perspektiven erzählt Takis Würger in seinem Debüt diese kleine Geschichte (klein, kurz aber inhaltsschwer) und wirft damit die Frage auf, wie weit man bereit ist für die Wahrheit zu gehen. Jede einzelne Figur kommt zu Wort und trägt am Ende zum Gesamtbild bei. Der Autor baut die Spannung langsam auf. Wie dem Protagonisten selbst, wird auch dem Leser nur allmählich klar, um was es hier eigentlich geht. Ist die berühmte Katze erst mal aus dem Sack, ist das Verbrechen auch schnell geklärt.

Die einzelnen Charaktere und was in den Figuren wirklich vor sich geht, bleibt leider an der Oberfläche, die einzelnen Wesenszüge zu kurz angerissen, um einen guten Eindruck der Personen zu erhalten. Die Geschichte selbst, so dramatisch und aufwühlend sie auch ist, ist zu schnell erzählt, als dass man sich in das Buch so richtig hineinfallen lassen kann. Kaum hat man ein Gespür für die Umgebung, die Menschen und deren Tun bekommen, ist der Roman schon am Ende.

Das Buch hatte es bei mir deswegen schwer, weil es in den Medien schon seit Monaten überall beworben und gelobt wurde und die Erwartungshaltung dementsprechend hoch war. Vielleicht ist das der Grund für meine leichte Enttäuschung.

Trotz allem empfehle ich diese Kriminalgeschichte, weil kurzweilig, spannend und interessant!



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Donnerstag, 30. März 2017
Julia Wolf „Walter Nowak bleibt liegen“
Walter Nowak ist Ende 60, hat seinen Betrieb für Baumaschinen verkauft und lebt mit seiner zweiten Frau Yvonne zusammen. Das alles erfahren wir etwas später im Roman. Doch zunächst geht Walter schwimmen, wie jeden Morgen, mit Ohrstöpsel und Badekappe zieht er seine Bahnen. Er ist stolz darauf noch so fit zu sein und spürt gerne das Brennen in seinen Muskeln. Als er eine junge Frau im rosa Badeanzug und ihre perfekten Armzüge beobachtet, fühlt sich Walter an der Ehre gepackt und gibt sich kurzerhand einem „Rennen“ hin. Das soll weitreichende Konsequenzen für ihn haben.

Am nächsten Tag wacht Walter auf, spät erst, zu spät um noch schwimmen zu gehen. Gedanken schwirren ihm durch den Kopf, Erinnerungsfetzen, seine Ehe, sein Sohn, seine Kindheit, Yvonne, die für einige Tage verreist ist, seine alten Kumpels, die Firma und vieles mehr. Alles scheint hin und her zu hüpfen in seinem Kopf, angefangene Gedanken mittendrin abzureißen, um an anderer Stelle wieder aufgenommen zu werden. Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen, sind bald nicht mehr voneinander abzugrenzen. Aber Walter Nowak fühlt sich stark, will am nächsten Tag unbedingt wieder ins Schwimmbad, will weitermachen.

Als Leser sitzen wir im Kopf des Protagonisten. Die einzelnen Fetzen werden von der Autorin eindringlich in Sprache gebracht, Sätze nur halb formuliert, Satzzeichen an unüblichen Stellen angebracht. So ungewöhnlich sich das jetzt anhören mag, es macht Walters Situation nur allzu deutlich. Es dauert wohl eine Weile, so war es zumindest bei mir, bis der so oft zitierte Groschen fällt und man das Geschehene einschätzen kann. Das war etwa nach der Hälfte des Buches der Fall. Danach war für mich nichts mehr wie vorher, was ich noch am Anfang als interessant und einzigartig empfand, fing an mich leicht zu nerven und ich hab mich nicht mehr richtig wohl gefühlt in meiner Haut. Plötzlich wars mir zu dicht, zu nah.

Ein ungutes Gefühl begleitete mich beim Lesen dieses Buches. Auszüge daraus hatte ich bereits bei der Aufzeichnung des letzten Ingeborg Bachmann Preises im letzten Jahr hören können. Ich fand es faszinierend, wie Julia Wolf schreibt. Dennoch hätte ich nicht mehr als diese 150 Seiten ertragen können, weder sprachlich noch inhaltlich.

Selbst jetzt beim Rezensieren des Buches stehe ich dem Ganzen noch ambivalent gegenüber und werde sicherlich noch eine ganze Weile darüber nachdenken. Am besten ist, jeder macht sich selbst ein Bild davon!



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Mittwoch, 15. März 2017
Jan Christophersen „Schneetage“
Ende der siebziger Jahre versinken große Teile Schleswig-Holsteins im Schneechaos. Und genau da setzt Jan Christophersens Geschichte an.

In einem kleinen Ort direkt an der Grenze zu Dänemark kämpft Jannis mit seiner Familie und den Dorfbewohnern gegen die Schneemassen an. Paul, Jannis Ziehvater, wird nach einem Zusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. In diesem größten Chaos seit Jahren erinnert sich der junge Mann an die Vergangenheit. Erinnert sich, wie ihn vor vielen Jahren Pauls Frau, von ihm nur „Chefin“ genannt, in ihr Zuhause holt, in das einzige Wirtshaus im Ort. Damals, Paul war in den Fünfzigern gerade aus der Gefangenschaft heimgekehrt, schien die Kneipe finanziell am Ende. Doch Paul verhalf dem “Grenzkrug“ zu neuem Glanz und Ansehen. Mit viel Engagement und Geschäftssinn, dem Ausbau der angrenzenden Stallungen zu Ferienwohnungen und mit der Hilfe der ganzen Familie, kamen bald die ersten Gäste. Zunächst wurden viele Flüchtlinge aufgenommen, die wegen der unsicheren Grenzsituation nicht recht wussten wohin. Später, nachdem ein Maler für das Haus und den Ort die Werbetrommel rührte, kamen mit der Zeit immer mehr Besucher, die meisten von ihnen fortan jedes Jahr.

Und dann erinnert sich Jannis daran, wie Paul sich immer mehr von der Familie abzuwenden schien; wie plötzlich die Suche nach einer verschwundenen Insel im Watt, die vor mehr als 500 Jahren überflutet wurde, zu seinem Lebensmittelpunkt wurde. In einem Zimmer der Ferienwohnungen richtete Paul sich ein. Schuf sein eigenes kleines Museum mit Fundstücken aus dem Watt, mit Karten jeder einzelnen Hallig, die es vor der großen Flut in der Gegend noch gegeben hatte. Paul lebte in seiner eigene kleine Welt, die ihn bald zu überfordern drohte.

„Schon einmal gesehen, wie das ist, wenn ein Damm bricht? Wie zunächst nur eine Welle über die Krone leckt und schäumend auf der Rückseite herunterfließt? Sieht erst gar nicht so schlimm aus. Das wiederholt sich, immer wieder, bis der Deich durchgeweicht ist und das erste Stück herausbricht. Ich sage Ihnen, wenn man das sieht, versteht man, was es heißt, Angst zu haben.“ (Seite 330)

Sehr einfühlsam und ruhig erzählt der Autor vom Leben einer Familie, in der jedes Mitglied seinen Platz findet. In jeden einzelnen kann sich der Leser einfinden und schließt schnell alle in sein Herz. Und hinter der Familie Tamme beleuchtet Jan Christophersen sehr genau und nachvollziehbar die Grenzsituation zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark, in der bis heute noch eigene Gesetze gelten. Auch der Hintergrund der großen Flut, die viele Inseln in der Nordsee ertränkt hat ist sehr interessant und hat mich immer wieder dazu veranlasst, die Tatsachen dieses Teils deutscher Geschichte im Internet nachzulesen. Und wieder bin ich ein bisschen schlauer geworden!

Alles an diesem Roman ist außergewöhnlich: der Erzählstil, die Zeitsprünge, die anfangs zu viel Verwirrung gesorgt haben, die Figuren und der Bezug zur Realität. Man sollte nicht mit großen Begebenheiten und Ereignissen in diesem Roman rechnen. Der Autor bleibt sachte in seiner Sprache, drückt mehr im Schweigen als im Reden aus, beobachtet aus den Augen des Icherzählers Jannis und schafft eine geradezu bildhafte Atmosphäre, die vor meinem inneren Auge noch lange Bestand haben wird.


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Donnerstag, 2. März 2017
Delphine de Vigan „Nach einer wahren Geschichte“ Hörbuch
gelesen von Martina Gedeck

Delphine de Vigan lässt ihre Protagonistin, augenscheinlich sie selbst, denn sie trägt ihren Namen, ihre Geschichte erzählen.

Auf einer Feier anlässlich der Pariser Buchmesse trifft die erfolgreiche, etwas menschenscheue Autorin Delphine die attraktive, exzentrische L . Schnell freunden sich die beiden Frauen an und entdecken bald viele Ähnlichkeiten, die nicht auf den ersten Blick zu erwarten waren. Weil Delphine gerade in einer Schaffenskrise steckt, nimmt sie gern den Rat ihrer neuen Freundin an. Denn L weiß wovon sie redet, ist sie doch selbst als Ghostwriter tätig.

Von nun an treffen sie sich regelmäßig, führen lange Gespräche, gehen gemeinsam aus und nähern sich schnell an. Doch L wirkt zunehmend aufgebracht während ihrer Diskussionen und verstrickt sich in lange Monologe über den Sinn des Schreibens und der wachsenden Verantwortung des Autors gegenüber seiner Leser. Immer öfter steigert sie sich derart in ihre Reden, scheint mehr und mehr aggressiv, so dass Delphin sich kaum mehr traut, ihrer Freundin zu widersprechen. Auch Delphines persönliche Situation gerät aus den Fugen; ein Teufelskreis aus Verunsicherung und Pflichtgefühl etwas leisten zu müssen führt bald zum Eklat. Und plötzlich ist Delphine nicht mehr in der Lage, ihren Computer zu öffnen oder einen Stift zu halten und verliert vollkommen die Fähigkeit, etwas aufzuschreiben. Gott sei Dank ist L ihr eine große Hilfe und übernimmt für sie sämtliche schriftlichen Angelegenheiten, beruflich wie privat. Fast unmerklich, zögernd, spitzt sich die Situation der beiden Frauen zu. Ganz subtil schleicht sich L in das Leben der Autorin und bringt sie in eine Abhängigkeit, aus der Delphine nicht entfliehen kann. Gibt ihr aber gleichzeitig das Gefühl, sie habe die Situation selbst im Griff. Später zieht L sogar bei ihr ein und langsam lassen sich auch äußere Ähnlichkeiten der beiden Frauen entdecken. Oder bildet sich Delphine alles nur ein?

Psychologisch gut durchdacht und geschickt laviert Delphine de Vigan den Leser durch eine äußerst spannende und verwirrende Geschichte einer Frauenfreundschaft. Die langen Monologe, mal psychologisch, mal philosophisch, stecken voller interessanter Gedankengänge und tiefgründigen zwischenmenschlichen Interaktionen. Vigan schreibt ein Buch über das Schreiben und wirft mit diesem Roman die immer währende Frage auf, wie viel Fiktion steckt in der Wahrheit und wie viel Wahrheit in der Fiktion.

Ein sich langsam entwickelndes ungutes Gefühl scheint sich beim Hören von hinten einzuschleichen und ist geradezu greifbar. Wer als Leser seinen Geist beruhigen möchte, abschalten, nicht nachdenken, der ist mit diesem Buch falsch beraten. Ganz im Gegenteil, die Geschichte regt an zum Nachdenken, sie fordert geradezu dazu auf, drängt sich auf. Sie hat mich von Anfang an gepackt und mich nicht losgelassen weit über das Ende hinaus. Nach meinem Ermessen ist der Autorin hier ein wahrer Geniestreich gelungen.

Martina Gedeck gibt dem Ganzen eine fast mystische, beängstigende und dunkle Atmosphäre durch ihr überaus deutliches langsames Vorlesen, als wolle sie dem Zuhörer jedes einzelne Wort zu Füßen legen. Ich kann natürlich nicht sagen, ob es als gelesenes Buch den gleichen Sog entwickelt hätte.

Besser und spannender geht‘s nicht!


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Dienstag, 21. Februar 2017
Véronique Olmi „Der Mann in der fünften Reihe“
„In ein paar Stunden […] Beginnt der Tag. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen werde. Ich weiß nicht, was ich jetzt mit mir anfangen soll. Vor 24 Stunden war alles noch gewohnt und vertraut. Ich dachte, ich würde entscheiden und hätte alles im Griff. Ich dachte, ich würde leben.“

Nach diesen Sätzen der ersten Seite des neuen Romans von Véronique Olmi weiß ich bereits, dass mich auch dieses Buch wieder fesseln wird.

Die Ich-Erzählerin, Nelly, sitzt nachts am verlassenen Bahnhof in Paris und erzählt von ihren letzten 24 Stunden. Erzählt, wie sie sich wie immer auf den Weg zu ihrer Arbeit gemacht hat, wie viel Angst sie jeden Abend vor der Theatervorstellung hat, in der sie eine große Rolle spielt und wie für sie die Schauspielerei zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden ist. Und erzählt, wie sie am gestrigen Abend bei ihrem Auftritt plötzlich ein bekanntes Gesicht unter den Zuschauern in der fünften Reihe erblickt. Und wie sie denkt ihr Herz bliebe stehen.

Was es mit dem Mann in der fünften Reihe auf sich hat und wie Nelly zu ihm steht, erfährt der Leser im zweiten Teil des Buches. Gerade mal auf etwas mehr als einhundert Seiten beleuchtet die Autorin einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben ihrer Protagonisten. Sie erzählt die Geschichte so emotional und eindringlich, dass man als Leser mit Nelly mitfühlt, mitdenkt und mitlebt. Derart gefesselt und hineingezogen in dieses Leben ist es trotz der Kürze schwer wieder aufzutauchen. Es ist sicher nicht in erster Linie die Story selbst die hier besticht, sondern die Art, wie sie erzählt wird, die Sprache, die Tiefsinnigkeit. Die Autorin bleibt nie an der Oberfläche, sondern führt den Leser stets zum Eigentlichen, zum Kern einer Sache hin.

Oft habe ich nach Beenden eines Romans von Véronique Olmi das Gefühl, als habe sie in mir etwas hinterlassen, was ich nicht genau zu beschreiben fähig bin.

Einhundert Seiten gelesen, dreihundert Seiten gespürt!



Véronique Olmi hier im Blog:
Véronique Olmi“Nacht der Wahrheit“
Véronique Olmi“In diesem Sommer“


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Dienstag, 7. Februar 2017
Gisa Klönne „Die Toten, die dich suchen“
Sie können es noch, beide, Gisa Klönne das Krimischreiben und Judith Krieger das Ermitteln!

Vier Jahre ist es her, da wollte Kriminalkommissarin Judith Krieger alles hinter sich lassen: die Mordkommission, ihre Arbeitskollegen, Köln, ihre verzwickten Familienverhältnisse und eigentlich auch sich selbst. Nach Kolumbien hatte es sie verschlagen. Doch bald schon ist sie nach Deutschland zurückgekehrt. Es sollte jedoch noch einmal Jahre dauern bis sie, nach langer Fortbildungszeit, die leitende Stellung in der Vermisstenabteilung der Kriminalpolizei Köln annimmt. Zunächst unsicher und mit einigen Unwägbarkeiten beginnt sie ihren neuen Job und wird bald doch wieder zu Ermittlungen eines Mordes hinzugezogen. Spätestens jetzt weiß Judith, dass sie letztendlich allem entfliehen kann, jedoch nicht sich selbst und nicht den Toten.

Ein kolumbianischer Geschäftsmann wird, nachdem als vermisst gemeldet, tot, gefesselt und offensichtlich gefoltert in einem leer stehenden Gebäudekomplex gefunden. Das neue Team um Krieger herum will noch nicht so recht funktionieren, was die Ermittlungen zunächst erschwert. Lange Zeit bleibt zweifelhaft, was das Opfer nach Köln geführt hat, von wem das Blut und das schwarze Haar, was am Tatort gefunden wird, stammt und was ein gewisser Übersetzer und Bekannter des Opfers mit all dem zu tun hat. Weiterhin wird eine junge Frau, kolumbianischer Herkunft, von ihrer Freundin als vermisst gemeldet. Es gibt also viel zu tun!

Und so gerät die sonst so stark wirkende Kriminalkommissarin nicht nur wieder in einen Mordfall, sondern kämpft auch gegen ihre eigenen Geister, die sie in Kolumbien zurückgelassen zu haben glaubte.

Nicht, dass dieser lang erwartete sechste Fall um Judith Krieger langsam und zaghaft beginnt, nein, die Autorin stürzt den Leser, ihrer Protagonisten gleich, geradezu kopfüber in den nächsten spannenden Kriminalfall; weit weg nach Kolumbien, in Drogenkriege und Korruption. Sie nimmt uns mit tief in die Seele und Gedanken der Kommissarin und lässt uns so begreifen, dass es wichtig ist, stets über den eigenen Tellerrand hinwegzuschauen. Mit allen Sinnen und äußerst empathisch beschreibt sie Situationen und die verschiedenen Charaktere.

Von der ersten Seite an hat mich dieser Krimi gefesselt und überzeugt und so hat sich das lange Warten gelohnt. Wieder einen Roman aus dieser Reihe zu lesen, fühlt sich ein bisschen an wie nach Hause kommen und alte Bekannte wieder zu treffen!


Wir dieses Buch nicht liest, ist selbst schuld!


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